Deutsch-türkische Literatur
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Als deutsch-türkische Literatur oder türkisch-deutsche Literatur wird in erster Linie die Literatur von aus der türkischen Einwanderergruppe in deutschsprachigen Ländern und deren Nachkommen hervorgegangenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern bezeichnet. Sie wird unter die interkulturellen Literaturen subsummiert, aber auch unter die betreffenden Nationalliteraturen.
Eine alternative Definition des Begriffs, die in besonderem Maße auf die jüngeren Veröffentlichungen zutrifft, ist die Beschreibung der deutsch-türkischen Literatur als Literatur einer deutsch-türkischen Kultursynthese.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Einleitung
Sargut Sölcün unterschied als einer der ersten deutschen Literaturwissenschaftler mehrere Generationen deutsch-türkischer Literatur und wies auf den Irrtum einer aufgrund des gemeinsamen Migrationshintergrundes teilweise noch heute vorzufindenden Wahrnehmung deutsch-türkischer Autoren als Kollektiv hin. Ab Mitte der 60er Jahre beschäftigte sich die gerade im Entstehen begriffene deutsch-türkische Literatur zwar noch vornehmlich mit der literarischen Verarbeitung der Migrationserfahrungen der Schreibenden (siehe z. B. Aras Ören) und wurde deshalb häufig auch als Migrantenliteratur oder Migrationsliteratur bezeichnet. Inzwischen wurde die Einwanderersituation als Schreibanlass aber weitgehend abgelöst von einer eigenständigen deutsch-türkischen Sichtweise, aus der heraus vor allem von den jüngeren Generationen geschrieben wird. Schon seit Anfang der 80er Jahre wird deutsch-türkische Literatur als nationalitätsübergreifendes und integrationsförderndes Element im deutschen Schulunterricht eingesetzt. Bis Mitte der 90er Jahre war allerdings die Anzahl eigenständiger deutschsprachiger Veröffentlichungen deutschtürkischer Schriftsteller in Deutschland mit nicht einmal hundert im Vergleich zu heute noch recht überschaubar: Lyrik war mit um die 30 Gedichtbänden und Langgedichten die meistveröffentlichte Gattung, nur etwas mehr als halb so viele Erzählsammlungen waren bis dahin erscheinen. Das in den 90er Jahren vermehrte Auftauchen eines zuvor nur vereinzelt zu beobachtenden Phänomens im deutsch-türkischen Literaturbetrieb, des Romans, dessen Anzahl binnen kürzester Zeit ebenfalls auf die Zwanzig zusteuerte, deutetete letztlich jedoch schon die folgende rasche Entwicklung des zu diesem Zeitpunkt immer noch hauptsächlich als Migrantenliteratur bezeichneten Schrifttums zu einer Vollliteratur an; Indizien hierfür waren ab den 80er Jahren auch erste Bände mit Satiren z. B. von Şinasi Dikmen und eine Anzahl Kinder- und Jugendbücher. Inzwischen werden sämtliche Genres vom Kinderbuch bis zur Theaterliteratur (die zunächst kaum im Druck erschien) in einer Vielzahl von Publikationen bedient.
[Bearbeiten] Zur deutschsprachigen Literatur
[Bearbeiten] Migrationsliteratur
[Bearbeiten] Phase 1: Migration als Problemfeld
Schon aus der ersten Generation der Einwanderer aus der Türkei traten einige bereits in deutscher Sprache schreibend hervor, hauptsächlich mit Lyrik und Kurzprosa. Diese Literatur beschäftigt sich noch primär mit der eigenen, oft als bitter erfahrenen Situation als Migrant.
Ab den frühen 80er Jahren stiegen die deutschsprachigen Veröffentlichungen türkischstämmiger Autoren (zum Teil bereits aus der zweiten Generation) stark an, nicht unwesentlich unterstützt durch einen literarischen Wettbewerb des Münchner Institut für Deutsch als Fremdsprache (1979 ff.): für diesen produzierte "Berichte, Erzählungen, Gedichte" erschienen bald in zahlreichen Anthologien mit Titeln wie In zwei Sprachen leben (1983) oder Türken deutscher Sprache (1984).
Der Schwerpunkt deutsch-türkischer Literaturthemen lag jedoch in den 70er und frühen 80er Jahren weiterhin auf Problemen der Integration, Fremdheit im neuen Lebensumfeld und Sehnsucht nach der türkischen Heimat, wobei im besonderen Maße die Arbeitssituatuion des Migranten literarisch bearbeitet wurde. Selbst bereits in der Türkei literarisch stark in Erscheinung getretene Schriftsteller wie Fakir Baykurt begannen nach ihrer Emigration damit, sich in ihrem türkisch- oder deutschsprachigen Werk vorwiegend mit dem Alltag türkischer Arbeitsmigranten zu befassen.
Arnold Rothe weist Anfang der 90er Jahre darauf hin, dass es sich dennoch keinesfalls um
- ein Schrifttum (handele), das nur die Migration zum Gegenstand hat. Eine solche Einschränkung würde Literatur auf den belanglosesten ihrer Aspekte reduzieren, den stofflichen, und die Autoren zu Exoten degradieren, die nur Neugier beanspruchen können, solange sie in ihrem Reservat verbleiben
Trotzdem bemängelt der Romanist zu diesem Zeitpunkt noch, die "türkisch-deutsche Literatur (sei) maßgeblich aus persönlicher Betroffenheit erwachsen".
[Bearbeiten] Phase 2: Migration als Chance
Ab Mitte der 80er Jahre rücken laut Islamwissenschaftlerin Renate Dieterich (2000) in der deutsch-türkischen Literatur die positiven Impulse des Lebens zwischen zwei Heimatländern ins Zentrum. Migration wird mehr und mehr als Chance begriffen.
[Bearbeiten] Literatur aus deutsch-türkischer Perspektive
Inzwischen gibt es innerhalb der deutsch-türkischen Literatur deutschsprachige Veröffentlichungen jeder Art und jeden Inhaltes. Die meisten stammen heute entweder von im deutschen Sprachraum oder von im deutschen Sprachraum und in der Türkei aufgewachsenen Autoren. Die Arbeiten vornehmlich dieser jüngeren Generation sind geprägt von einer deutsch-türkischen Sichtweise der Schreibenden, beschäftigen sich jedoch mit Inhalten, die meist nichts mit ihrer Bikulturalität zu tun haben, sondern benutzen diese nur als mehr oder weniger selbstverständlichen Background. Dabei sind bzw. waren sie in so verschiedenen Bereichen wie Hochliteratur und Theaterliteratur - z.B. Feridun Zaimoğlu, Kriminalroman - wie Akif Pirinçci, Film- und Fernsehdrehbuch - Fatih Akın oder Bora Dagtekin, Satire und Kinder- und Jugendbuch (Kemal Kurt) erfolgreich. Eine Expertisenankündigung der Thomas-Morus-Akademie in Bensberg terminiert den Beginn dieser bislang jüngsten Phase in der noch kurzen Geschichte der deutschsprachigen Literatur von Autorinnen und Autoren türkischer Herkunft oder Abstammung zeitlich etwa "gegen Ende der 90er Jahre", als sich
- ganz klar eine türkisch-deutsche Literatur auf höchstem Niveau (habe) etablieren können.
Ihre nicht selten kritische Beschäftigung damit, wie "kulturelle Identität sozial und also kommunikativ konstruiert wird" (Edgar Landgraf), wird als besonderer Vorzug der interkulturellen Literatur gesehen.
[Bearbeiten] Zur Rezeption
[Bearbeiten] Im Inland
Die Literaturwissenschaft beschreibt grob zwei Phasen der Rezeption deutsch-türkischer Literatur in Deutschland. Zunächst die, in der man deutsch-türkische Literaturerzeugnisse laut Michael Hofmann
- noch als Gastarbeiterliteratur bezeichnet hat, wo es eigentlich darum ging, nur die negative Behandlung der Ausländer in Deutschland darzustellen. Man hat von einer Art Sozialarbeiterattitüde der deutschen Leser gesprochen.
Inzwischen werde deutsch-türkische Literatur jedoch nicht mehr deshalb gelesen,
- weil die Deutschen immer noch das Gefühl haben, sie müssten diese (...) Texte oder Filme anschauen, um eine Schuld zu büßen, weil sie die Türken schlecht behandeln
, sondern man interessiere sich vielmehr für den "ganz ungewohnten Blick auf (die eigene) Realität".
Nachdem zunächst nicht wenige deutsch-türkische Autoren kaum über eine Buchveröffentlichung hinaus kamen, geschweige denn als freie Schriftsteller arbeiten konnten (Aras Ören, Akif Pirinçci und - wenn man sie trotz ihrer nur eine Dekade währenden Teilnahme am deutschen Literaturbetrieb dazurechnen möchte - Aysel Özakin blieben lange Zeit die einzigen, denen dies gelang), ist seit den 90er Jahren ein wachsendes Interesse an deutsch-türkischer Literatur generell nicht nur von seiten der Literaturwissenschaft, sondern auch bei der Leserschaft zu bemerken.
Im Bereich der Theaterliteratur war Emine Sevgi Özdamar die erste deutsche Autorin türkischer Herkunft, die ein größeres Publikum erreichte: ihr erstes Theaterstück, die Komödie Karagöz in Alamania (1982), wurde 1986 unter großem Medieninteresse am Schauspiel Frankfurt uraufgeführt. Inzwischen stehen regelmäßig deutsche Stücke von Autoren wie Feridun Zaimoglu oder Nuran Çaliş auf den Spielplänen bedeutender deutschsprachiger Theater.
Auf der anderen Seite sehen einige Literaturwissenschaftler, auch Sargut Sölcün, besonders nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, die innerhalb weiter Teile des Lesepublikums eine gewisse allgemeine Angst vor muslimischen Fundamentalismus ausgelöst haben, dennoch auch Probleme der Akzeptanz dieser Literatur im deutschen Literaturbetrieb. Die Tatsache, dass literarisch fragwürdige Erlebnisberichte unterdrückter deutsch-türkischer Frauen beim Publikum oft besser anzukommen scheinen und auch in der deutschen Medienwelt präsenter sind, als die zahlreichen hochwertigeren deutsch-türkischen Literaturerzeugnisse, scheint diese These zu belegen.
[Bearbeiten] Ausblick
Im Jahr 2006 unterzeichneten Juergen Boos und der türkische Kulturminister Attila Koç in Ankara einen Vertrag, durch den die Türkei zum Gastland der Frankfurter Buchmesse des Jahres 2008 wurde. Boos stellte diese Entscheidung laut Presseberichten in konkreten Zusammenhang damit, dass rund 2,5 Millionen Menschen türkischer Herkunft in Deutschland lebten und "dadurch eine eigenständige deutsch-türkische Literatur entstanden" sei, aber "trotz der besonderen Beziehungen zwischen den beiden Ländern (moderne türkische Literatur Deutschen) nur punktuell bekannt" ist. Die Türkei als Gastland der Buchmesse 2008 in Verbindung mit der überraschenden Verleihung des Literaturnobelpreises 2006 an Orhan Pamuk (der damit der erste Türke war, der überhaupt einen Nobelpreis erhielt) kann nach Meinung zahlreicher Literaturwissenschaftler in den nächsten Jahren zu einer noch weitaus stärkeren Wahrnehmung und Akzeptanz türkischer wie deutsch-türkischer Literatur führen, als sie bisher im deutschsprachigen Raum vorhanden war.
[Bearbeiten] Im Ausland
In die türkische Sprache übersetzte Literaturerzeugnisse deutsch-türkischer Autoren werden in der Türkei mit besonderem Blick in Bezug auf Öffnungsmöglichkeiten der türkischen Kulturwelt gegenüber einer westlich geprägten rezipiert.
[Bearbeiten] Zur türkischsprachigen Literatur
Eine Anzahl der Vertreter der deutsch-türkischen Literatur benutzt auch oder ausschließlich die Muttersprache in ihrer literarischen Arbeit, erscheint zum Teil zuerst in der Türkei und/oder wird übersetzt. Dazu gehören auch Schriftsteller, die vorrangig für die türkische Gemeinde in Deutschland schreiben, aber ebenso schon vor ihrer Emigration als türkische Schriftsteller bekannt gewordene Autoren wie Yüksel Pazarkaya, der gleichsam auch in deutscher Sprache arbeitet oder Aras Ören, der erste Träger des Adelbert-von-Chamisso-Preises. Obwohl er selbst kein Migrant war, wird die Erzählung Almanya, Almanya (1965) von Nevzat Üstün, häufig als erstes Werk türkischer Migrantenliteratur wahrgenommen.
Außer im Formalen – die Schriftsteller, die in der Muttersprache blieben, bedienten sich z. B. von Beginn an mehr der längeren Form – ist diese Literatur nicht losgelöst von der deutschsprachigen „Zwillingsschwester“ zu betrachten, kann man ihre stoffliche Entwicklung auch als weitgehend analog bezeichnen. Zudem konzipiert heute auch eine Anzahl von Schriftstellern ihre Werke im Wesentlichen für die Veröffentlichung in deutscher Übersetzung.
Während die Anzahl türkischstämmiger Autoren, die in deutscher Sprache arbeiten, ab den 90er Jahren stark zugenommen hat, wird die Anzahl türkischschreibender Schriftsteller allerdings geringer.
[Bearbeiten] Zur Rezeption
Die türkischsprachige Literatur deutsch-türkischer Schriftsteller wurde zunächst (auch mangels vorliegender Übersetzungen) ausschließlich von einer türkischsprachigen Leserschaft rezipiert,
- thematisierten die meisten Autoren der ersten Generation (doch) die Probleme, die von der Migration herrührten, um damit eine Art therapeutische Aufgabe zu erfüllen
, so die Literaturwissenschaftlerin Mediha Göbenli in ihrer Untersuchung "Migrantenliteratur" im Vergleich: Die deutsch-türkische und die indo-englische Literatur (2006).
Der deutsche Literaturbetrieb wurde erstmals in größerem Maße auf das Phänomen einer deutsch-türkischen Literatur aufmerksam, als der Berliner Autor Aras Ören, der seit 1969 in Deutschland arbeitete, sein umfangreiches Poem Was will Niyazi in der Naunystraße? (1973) in deutscher Übersetzung im linksorientierten Rotbuch-Verlag veröffentlichte.
In diesem Zusammenhang ist auch Peter Steins Gründung eines Türkischen Ensembles an der Berliner Schaubühne 1979 zu erwähnen, die für ein weiteres Bekanntwerden türkischsprachiger Literaturerzeugnisse aus Deutschland (etwa die Kinderstücke Meray Ülgens) sorgte.
[Bearbeiten] Weiterführende Literatur
- Alois Wierlacher / Andrea Bogner (Hrsg.): Handbuch Interkulturelle Germanistik, Stuttgart /Weimar: Metzler 2003
- Carmine Chiellino (Hrsg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch, Stuttgart / Weimar: Metzler 2000