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Antipsychiatrie - Wikipedia

Antipsychiatrie

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Die Antipsychiatrie ist eine in den 1950ern u. a. von Ronald D. Laing begründete Bewegung, die sich insbesondere gegen die Erklärung der Schizophrenie als psychische Erkrankung wendet und nicht nur, wie andere Psychiatriekritiker, Missstände und heikle Entwicklungen anprangert, sondern die Psychiatrie insgesamt radikal in Frage stellt. Dies geschieht weniger mit psychiatrischen, sondern vor allem mit gesellschaftskritischen und politischen Argumenten (mit vielen Parallelen zur 68er-Bewegung).

Versuche, antipsychiatrische Konzepte in die Praxis umzusetzen (z. B. die von Ronald D. Laing und David Cooper konzipierten households in der Kingsley Hall in London, Station 21 durch David Cooper), scheiterten allerdings zunächst.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Protagonisten der Antipsychiatrie

Vorbereitet wurde die Bewegung durch Arbeiten von Michel Foucault, Jacques Lacan und Herbert Marcuse. Der Philosoph und Schriftsteller Foucault publizierte u. a. Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahn im Zeitalter der Vernunft (im Original: Folie et déraison), in der er das Konzept des Wahnsinns und gesellschaftliche Zusammenhänge kritisch analysiert. Auf Foucault wurde in der Antipsychiatrie häufig Bezug genommen. Lacan war Psychiater, der die Psychiatrie verließ um eine eigene psychoanalytische Schule zu gründen. Er beeinflusste die Psychiatriekritik eher indirekt. Sowohl bei Foucault als auch bei Lacan finden sich indirekt theoretische Bezüge zur Anthropologie des Strukturalisten Claude Lévi-Strauss. Der Philosoph Marcuse befasste sich selbst nicht mit der Antipsychiatrie, seine Texte dienten aber antipsychiatrischen Bewegungen als Inspirationsquelle.

Besonders bekannte Vertreter der Antipsychiatrie waren die Psychiater Ronald D. Laing, David Cooper und Thomas Szasz. Außerdem werden der Bewegung Peter Lehmann, der Psychiater Jan Foudraine, Franco Basaglia und der Soziologe Erving Goffman zugeordnet.

[Bearbeiten] Antipsychiatrie und der Krankheitsbegriff

Ein Problem bei psychischen Störungen ist ihre Diagnose und oft auch Definition. Die schwierige Greifbarkeit der "Normalität" menschlichen Verhaltens führt leicht zu Fehldiagnosen; auch ist ein aktiver Missbrauch durch den Diagnostiker hier einfacher als bei anderen Krankheiten (extremes Beispiel: wird ein fehlendes Bein diagnostiziert, ist aber vorhanden, ist das leichter als Fehldiagnose zu entlarven als ein "fehlendes" soziales Bewusstsein etc.)

Da psychische Störungen immer als Abweichung von einer Norm definiert werden, stellt sich die Frage: Wer bestimmt, was normal ist? So galt beispielsweise Homosexualität lange Zeit als behandlungsbedürftige psychische Störung (vgl. auch die "Behandlung" des Wissenschaftlers Alan Turing 1952).

Untersuchungen in den USA zeigten, dass Schizophrenie häufiger bei Angehörigen der Unterschicht, besonders bei Schwarzen, diagnostiziert wurde als z. B. bei Personen aus der weißen Mittelschicht, was den Verdacht einer Bestrafung schichtspezifischer Unangepasstheit durch Etikettierung mit dem Begriff "krank" nahezulegen schien.

Wegen dieser Schwächen deskriptiver Psychopathologie lehnten Antipsychiater die psychiatrische Diagnosestellung ab und bezeichneten Diagnosen per se als inhuman.

Die Ablehnung von sozial abweichendem bzw. gesellschaftlich unangepasstem Verhalten, dessen Bezeichnung als Krankheit, die darauf folgende ablehnende und ausstoßende Reaktion der Mitmenschen des sich anders Verhaltenden, seien das eigentliche Problem. Die Akzeptanz der Rolle des Kranken (Internalisierung, Krankheitseinsicht) durch den Betroffenen würden dann dazu führen, dass der Betroffene sich so verhält, wie es einem angeblich psychisch Kranken entspricht. Da also die Ursache beobachtbarer Symptome gesellschaftliche Strukturen und psychiatrische Kliniken seien, sei es überflüssig, die in Wahrheit gar nicht Erkrankten zu behandeln. Ein extremer Verfechter dieses Ansatzes ist Thomas Szasz, der wegen der "Nichtexistenz" von Geisteskrankheit (er bezeichnet sie als Mythos) jede Diagnose, Hospitalisierung und Behandlung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet. Gemäßigtere Vertreter der antipsychiatrischen Bewegung erkennen die Realität von psychiatrischen Erkrankungen an, deuten sie aber als sozial bedingt.

Darüber hinaus erscheint die Wissenschaftlichkeit psychiatrischer Diagnosen zweifelhaft, da diese häufig nicht verifizierbar sind und folglich Fehldiagnosen, bzw. widersprüchliche Diagnosen drohen. Somit können in der psychiatrischen Diagnostik selten Aussagen getroffen werden, deren Richtigkeit unbestritten ist. Diese Kritik trifft allerdings auf Diagnosen nicht bzw. vermindert zu, welche auf nachweisbaren physischen (neurologischen) Veränderungen basieren. Es stellt sich außerdem die Frage, ob es überhaupt vertretbar ist, Aussagen über das menschliche Innenleben zu treffen, welches sich, aus Sicht von Kritikern, dem Erkenntnisbereich des Psychiaters entzieht.

[Bearbeiten] Antipsychiatrie und Psychiatriemissbrauch

Die Psychiatrie ist naturgemäß durch die Tatsache, dass Menschen Macht über andere haben, anfällig für Machtmissbrauch auf individueller Ebene (z.B. Abschiebung "anstrengender" Patienten in der Allgemeinmedizin, vorschnelle Vermutung von Geisteskrankheit bei Straftätern) als auch auf gesellschaftlich-politischer Ebene. In der Sowjetunion wurde über viele Jahre bei politisch andersdenkenden Menschen die atypische Schizophrenie diagnostiziert. Diese Menschen wurden in geschlossene psychiatrische Anstalten interniert, so dass es offiziell zu dieser Zeit keine politischen Gefangenen gab. Auch andere Regime entledigten und entledigen sich unliebsamer Kritiker in psychiatrischen Anstalten.

Aufgrund dieser Erfahrungen wird in der Antipsychiatrie Wahn oder zumindest Schizophrenie nicht als Krankheit, sondern als reine Erfindung der Gesellschaft bzw. herrschender Kreise der Gesellschaft und insbesondere als Erfindung von Psychiatern angesehen, um Herrschaft und Einkommen zu sichern. Das Stigma "psychisch krank" wird als gewolltes Mittel zur Durchsetzung der herrschenden Interessen gedeutet.

[Bearbeiten] Auswirkungen der Antipsychiatrie

Obwohl der Ansatz der Antipsychiatrie-Bewegung eher politisch als therapeutisch war, hat sie das Bewusstsein für Vorgänge im sozialen Umfeld der Patienten und die Stigmatisierungs-Problematik geschärft und einen kritischen Umgang mit Nosologie und Terminologie angeregt.

Obwohl die Hauptthesen der Antipsychiatrie vielfach verworfen wurden, bewirkte die Anklage von Missständen in Kliniken wichtige Reformen in Versorgung psychiatrischer Patienten. Unhaltbare Zustände und Behandlungsmethoden wurden und werden angeprangert. Dies gab unter anderem in Italien, Schweden und Österreich Anstöße für eine Psychiatriereform, die zu einer teilweisen Auflösung der psychiatrischen Anstalten, beziehungsweise zu starker Verkürzung der Verweildauer und genauerer Kontrolle der so genannten Zwangseinweisungen und Zwangsanhaltungen (=Einweisung und Anhaltung gegen den Willen des oder der Betroffenen) führte.

Die Antipsychiatrie forderte statt des Wegsperrens (aus ihrer Sicht angeblich) psychisch Erkrankter Weglaufhäuser, die in Analogie zu den Frauenhäusern den Betroffenen Obdach und Schutz geben sollten. Es gibt solche Häuser inzwischen auch in Deutschland; sie arbeiten nach humanistischen Soteria-Konzepten.

[Bearbeiten] Kritik an der Antipsychiatrie

Die antipsychiatrischen Konzepte werden unter anderem als realitätsfern kritisiert, da für die meisten der Betroffenen - die ja zum größeren Teil selbst unter ihren psychischen Störungen leiden - die Frage, ob es sich um eine "echte" Krankheit handele oder nicht, manchmal völlig unerheblich sei. Jemand, der schwer depressiv ist, der möglicherweise sogar mit dem Gedanken spielt, sich das Leben zu nehmen, oder jemand, der wegen seiner Ängste (Phobie) das Haus nicht mehr verlassen kann, der wird solche Diskussionen als rein akademisch ansehen - ihn interessieren die verschiedenen Behandlungsmethoden und die Hoffnung auf Erfolg.

Auch die radikale Haltung der Antipsychiatrie zu Psychopharmaka wird als über berechtigte Kritik zu weit hinausschießend bezeichnet (z.B. von Heinz Schott und Rainer Tölle). Der schwerwiegendste Kritikpunkt ist die Tatsache, dass von der Antipsychiatrie die heute als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis geltende biologische Basis psychiatrischer Krankheiten gänzlich geleugnet wird.

Die Anführer einer Bewegung, die um 1970 versuchte, Antipsychiatrie in deutschen Universitätskliniken in die Praxis umzusetzen, wurden für ihre meist marxistische Motivation kritisiert und mit der Rote Armee Fraktion in Verbindung gebracht. Bekannt wurde das SPK (Sozialistisches Patientenkollektiv) von der Heidelberger Universitätsklinik, aus dem später zehn Mitglieder in die RAF gingen. Auch zu der aktiven Zeit des SPK war die Haltung der Öffentlichkeit eher ablehnend und die Aktiven litten unter behördlichem Druck.

Payk zieht die Bilanz, dass Umbenennungen und die Verleugnung von Krankheit in der psychiatrischen Praxis nichts gebracht, aber Patienten geschadet hätten, weil sie die Vielfältigkeit psychiatrischer Symptome ignoriert hätten. Die Angriffe auf die traditionelle Psychiatrie seien ideologisch motiviert gewesen, und es seien auf berechnende Weise psychisch Kranke für politische Zwecke missbraucht worden.

[Bearbeiten] Varia

Eine Unterorganisation von Scientology, KVPM (Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte; englisch CCHR), klärt öffentlich Scientology-Sicht über Psychiatrie auf, ist offiziell stets bemüht Psychiatrie-Opfern zu helfen, und wird verdächtigt (Ingo Heinemann) Mitglieder für die Church of Scientology zu werben.

[Bearbeiten] Literatur

  • Marc Rufer: Irrsinn Psychiatrie. Zytglogge Verlag, Bern 1997, ISBN 3-7296-0536-4 - Textauszug siehe: [1]
  • Peter Roger Breggin: Giftige Psychiatrie 2 Bde. Carl Auer, Heidelberg 2003, ISBN 3-896-70432-X - Textauszug siehe: [2]
  • Heinz Schott / Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren Irrwege Behandlungsformen. München 2006.
  • Theo R. Payk: „Antipsychiater“. In: Psychiater. Forscher im Labyrinth der Seele. Stuttgart 2000.

[Bearbeiten] Filme

  • Family Life (1971) [UK] Sandy Ratcliff, Bill Dean, Regie: Ken Loach, Alternativ-Titel: Wednesday's Child, Sprache: Englisch
  • Equus (1977) [USA, UK] Richard Burton, Peter Firth, Regie: Sidney Lumet, Alternativ-Titel: Equus - Blinde Pferde [de], Fliehende Pferde [de]

[Bearbeiten] Siehe auch

[Bearbeiten] Weblinks

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