Primärtheorie
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Die Primärtheorie ist die theoretische Grundlage der Primärtherapie, die auf das 1970 erschienene Buch Der Urschrei von Arthur Janov zurückgeht.
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[Bearbeiten] Der Ansatz
Janov beschreibt in seinem Buch Der Urschrei, dass durch das Aufheben von Abwehrmechanismen "primäres Schmerzerleben" (also schmerzhafte Erlebnisse aus der frühen Kindheit) wieder in das Bewusstsein drängen. Abwehr im janovschen Sinne ist jede Handlung, die dazu dient schmerzhafte Erinnerungen vom Bewusstsein fern zu halten. Abwehr in diesem Sinne sind zum Beispiel Drogen, Alkohol, Fernsehen und andere ablenkende oder süchtige Verhaltensweisen. Ebenso unter Abwehr fallen persönliche "Ticks" der Patienten. So sieht die Primärtheorie in den verschieden Krankheitssymptomen, die von der Psychologie beschrieben werden, nicht anderes als eine individuelle Ausprägung der persönlichen Abwehrstrategien. Durch die Blockade dieser Abwehr kommt es laut Janov zunächst zu Erscheinungen, die von der klassischen Psychologie selbst wieder als Krankheitsbilder angesehen werden, aus primärtheoretischer Sicht aber nur eine Vorstufe zum Fühlen der eigentlichen "Urgefühle" darstellen. Phänomene, die auftreten können, sind beispielsweise Angstzustände, psychosomatische Reaktionen oder auch das Wahrnehmen von (inneren) Stimmen. Wird auch diese „Schranke“ durchbrochen, kommt der Patient zum eigentlichen Urgefühl.
Im Verlauf der Therapie zeigt sich, dass in der Regel in chronologischer oder rückwärts chronologischer Reihenfolge traumatische Situationen aus der Kindheit wiedererlebt werden. Die relativ genaue Einhaltung einer der beiden Reihenfolgen ergibt sich laut Janov aus der Neuronalen Kartenbildung, die sowohl vom Zentralnervensystem als auch von neuronalen Modellen (Neuronale Netze) bekannt ist.
Da die Abwehrmuster, die ein Patient aufbaut, abhängig sind von der persönlichen Vorgeschichte und der persönlichen Wahrnehmung, unterscheidet die Primärtheorie nicht wie klassische Ansätze der Psychologie (Freud, Adler, Jung u.a.) zwischen verschiedenen Symptomgruppen.
In den Anfängen der primärtherapeutischen Praxis wurde der Therapeut rein als eine Instanz angesehen die dazu dient, die Abwehr zu blockieren, also aufzuheben. In der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass diese Funktion nicht ausreichend ist, so dass Primärtherapeuten heute in den primärtherapeutischen Prozess einbezogen werden.
[Bearbeiten] Der Urschmerz und Urschrei
Als Urschmerz bezeichnet Janov das frühe Schmerzerleben in der Kindheit. Dieses frühe Schmerzerleben kann sowohl in einem einmaligen höchst traumatischen Erlebnis, als auch in einer fortwährenden Verletzung bestehen. Urschmerz führt laut Janov nicht automatisch zu einer Abwehr und in der Folge Verdrängungsmechanismus, sondern die Summe der Verletzungen führt letztlich zu einem Abwehrmechanismus. Der von Janov beschriebene Prozess der Verdrängung, entspricht in weiten Teilen den von Sigmund Freud beschriebenen Verdrängungsprozessen. Im Gegensatz zu diesem sieht Janov die Verdrängung jedoch nicht als positiven und erstrebenswerten Mechanismus an, sondern er interpretiert Verdrängung von Schmerzen als eine Art Notfallprogramm des menschlichen Organismus, dessen Wirkung durch die Primärtherapie wieder aufgehoben werden soll. Innerhalb einer Primärtherapeutischen Behandlung wird dieser Urschmerz häufig duch einen sogenannten Urschrei freigesetzt. Der Urschrei ist ein charakteristischer Schrei innerhalb einer Primärtherapeutischen Behandlung. Die Bezeichnung Urschrei hat seinen Ursprung in der Entdeckung der Primärtherapie. In der Einleitung von Der Urschrei beschreibt Janov einen "markerschütternden Schrei" eines seiner ersten Partienten. Dieser oder ähnliche Schreie wiederholen sich regelmäßig in Primärtherapeutischen Behandlungen, stellt aber im Gegensatz zur landläufigen Meinung nicht das grundelement Primärtherapeutischer Behandlungen dar, sondern ist lediglich eine der möglichen Erlebnisformen von Urerlebnissen, also der Wiederholung des Urschnerzes. Ebenso tauchen in Primärtherapeutischen Sitzungen Urerlebnisse auf die völlig still oder mit einem leisen Wimmern einhergehen. Der Primäre Effekt besteht folglich nicht im schreien sondern im vollständigen wiedererleben eines frühen Traumas. Dieses Erleben wird von Janov als Urerlebnis bezeichnet.
[Bearbeiten] Neurologische Grundlagen
Im Buch "Anatomie der Neurose" beschreibt Janov erstmals die neurologischen Abläufe der Entstehung von Neurosen sowie die Auflösung der Neurosen durch das Wiedererleben von Urgefühlen. Durch massive traumatische Erlebnisse oder wiederholte kleinere Traumata wird im Neokortex durch Bahnung zunächst eine verstärkte Wahrnehmung des Schmerzerlebens erzeugt und entsprechende Schutzreflexe ausgelöst. Führen diese Schutzreflexe nicht zu einer Minderung des Schmerzes, so stellt sich ein Mechanismus ein, der die primär deaktivierenden Neuronen des Limbischen Systems dazu bringt, das Schmerzerleben selbst abzuschalten. Bekannt wurde dieser Effekt durch das Experiemt mit den Pavlovschen Hunden.
Nachvollziehbar wird dieser Effekt, wenn man die anatomische Anordnung des Limbischen Systems betrachtet. Das Limbische System legt sich als eine vollständige Abschirmung zwischen den Neokortex und Hypothalamus/Thalamus sowie die primären Sinneszugänge. Dadurch ist es dem limbischen System möglich, die Wahrnehmung der Außenwelt ebenso wie bewusste Reaktionen auf die Außenwelt teilweise oder vollständig zu blockieren. Ausgenommen von diesem Bereich ist das reflexsteuernde Kleinhirn. Da die niederen Hirnareale weiterhin voll aktiv sind, suchen die aufsteigenden Sinnesreize einen anderen Weg. Es kommt zu so genanntem symbolischen Handeln. Zum Beispiel beginnen Kinder übermäßig zu essen statt weiterhin nach elterlicher Liebe zu suchen.
In der Primärtherapie wird dem Rechnung getragen, indem bei traumatischen Sinneswarnehmungen zwar alle körperlichen Reaktionen in vollem Umfang vorhanden sind (erhöhte Pulsfrequenz, erhöter Blutdruck, Schweißbildung u.a.), dennoch werden diese Symptome nicht mehr wahrgenommen. Janov spricht dabei vom so genannten Spaltungsprozess. Aus kognitiver Sicht ist der Spaltungsprozess ein Vorgang, der aus dem bewussten realen Selbst ein irreales Selbst macht. Im Buch Der Urschrei beschreibt Janov ein Ereignis, das er die große Primärszene nennt. Hier fasst das Kind in einem nur teilweise bewussten Prozess die vorangegangenen Traumata zu einer Großen Erkenntnis zusammen. Dieser Zeitpunkt ist nach Janov auch der Zeitpunkt, zu dem die Neurose entsteht.
Innerhalb des Primärtherapeutischen Prozesses werden nun speziell die Hirnareale wieder aktiviert, die das Limbische System zum Sperren der Sinneswahrnehmung anregen. Während eines so genannten Urerlebnisses durchlebt der Patient vor allem auf körperlicher Ebene das Trauma wieder. Das körperliche Wiedererleben führt zu verschiedenen Effekten. Zum einen werden frühe Erinnerungen unabhängig vom körperlichen Erleben wieder wachgerufen. Zum anderen ist es dem Patienten möglich, "Verbindungen" herzustellen. Das heißt der Patient ist in der Lage, den Zusammenhang zu jahrelangen Verhaltensweisen, Ticks, Süchten, psychosomatischen Erkrankungen zu erkennen. Auf der körperlichen Ebene werden diese Symptome in der Regel mit dem vollen erleben des Urschmerzes abgeschaltet.
[Bearbeiten] Literatur
- Der Urschrei, Frankfurt 1973
- Gefangen im Schmerz, Frankfurt 1980
- Frühe Prägungen, Frankfurt 1983
- Der neue Urschrei, Frankfurt 1993