Vorverfahren
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Das Vorverfahren ist ein Vorschaltrechtsbehelf für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen. Es ist statthaft, wenn der Bürger sich gegen einen Verwaltungsakt oder gegen die Ablehnung eines Verwaltungsaktes wehren will. Das Vorverfahren heißt im Bereich der allgemeinen Verwaltung und der Sozialverwaltung Widerspruchsverfahren. Im Bereich der Finanzverwaltung nennt man das Vorverfahren Einspruchsverfahren. Das Vorverfahren ist streng zu unterscheiden von den formlosen Rechtsbehelfen des Eingabewesens, wie der Gegenvorstellung, Fachaufsichtsbeschwerde und Dienstaufsichtsbeschwerde.
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[Bearbeiten] Zweck des Vorverfahrens
Das Vorverfahren dient der nochmaligen Überprüfung einer behördlichen Entscheidung durch eine Stelle der Verwaltung. Es gibt der Verwaltung die Chance ihre eigene Entscheidung vor einer gerichtlichen Überprüfung noch einmal selbst zu überdenken. Das Vorverfahren dient aber auch dem Bürger. Er kann durch ein Vorverfahren auch einen unzweckmäßigen rechtmäßigen Verwaltungsakt angehen, während einer bei einer gerichtlichen Überprüfung nur die Widerrechtlichkeit des Verwaltungsaktes anführen kann. Auch die Entlastung der Gerichte wird bezweckt.
[Bearbeiten] Wirkung des Vorverfahrens
Die für den Bürger wichtigste rechtliche Wirkung des Vorverfahrens besteht in seinem Suspensiveffekt. Einen Monat nach Bekanntgabe oder Bekanntgabesurrogat wird ein Verwaltungsakt formal bestandkräftig, es sei denn, dass der Betroffene Widerspruch eingelegt hat. Die durch den Widerspruch eingeleitete aufschiebende Wirkung verhindert in der Regel die Vollstreckung des Verwaltungsakts im Wege der verwaltungsrechtlichen Zwangsvollstreckung. Das gilt nicht für die Beitreibung öffentlicher Abgaben und Kosten, für unaufschiebbare Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten oder den Widerspruch eines Nachbarn gegen eine Baugenehmigung. Trotz des Widerspruchs kann die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat oder die Widerspruchsbehörde, die Wideraussetzung der aufschiebenden Wirkung anordnen, wenn das überwiegende Interesse eines Beteiligten oder das gemeine Wohl es erfordert. Der Bürger kann durch einstweiligen Rechtsschutz die Herstellung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs beantragen. Reagiert die Behörde auf den Widerspruch längere Zeit überhaupt nicht, kommt eine Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO in Betracht.
Eine weitere Wirkung des Vorverfahrens liegt in dem durch die Nichtabhilfe des Widerspruchs durch die Ausgangsbehörde aufschiebend bedingten Devolutiveffekt. Siehe dazu unter Durchführung des Widerspruchsverfahrens
[Bearbeiten] Durchführung des Widerspruchsverfahrens
Das Vorverfahren beginnt mit der Einlegung des Widerspruchs, § 69 VwGO. Der Widerspruch ist innerhalb eines Montats bei der Behörde, die den Ausgangsbescheid erlassen hat oder bei der Widerspruchsbehörde einzureichen. Wird der Widerspruch bei der Widerspruchsbehörde eingelegt, so leitet diese den Widerspruch der Ausgangsbehörde zu. Hält die Ausgangsbehörde den Widerspruch für begründet (d.h. den Ausgabgsbescheid für widerrechtlich oder unzweckmäßig), so hilft sie ihm ab, indem der angegriffene Verwaltungsakt aufgehoben bzw. der erstrebte erlassen wird. Sie hat damit auch die Funktion der Abhilfebehörde (siehe auch Abhilfe). Hilft die Ausgangsbehörde dem Widerspruch nicht ab, legt sie den Widerspruch der Widerspruchsbehörde zur Entscheidung vor, die einen Widerspruchsbescheid erlässt. Wenn auch die Widerspruchsbehörde dem Widerspruch nicht stattgibt, kann Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage erhoben werden. Die Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde ist aufschiebend bedingt durch die Nichtabhilfe der Ausgangsbehörde (aufschiebend bedingter Devolutiveffekt). Die Widerspruchsbehörde ist regelmäßig die der Abhilfebehörde vorgesetze Behörde, es sei denn, die nächst höhere Behörde ist eine oberste Bundes- oder Landesbehörde. Dann ist die Widerspruchsbehörde die Behörde, welche den Ausgangsbescheid erlassen hat. Die Widerspruchsbehörde ist in Selbstverwaltungsangelegenheiten der Gemeinden und Kreise mit der Ausgangsbehörde identisch, wenn nicht der Landesgesetzgeber etwas abweichendes bestimmt.
Widerspruchsführer kann nur sein, wer geltend macht in eigenen Rechten verletzt zu sein oder durch die Unzweckmäßigkeit der behördlichen Entscheidung selbst betroffen zu sein. Er ist innerhalb einer Frist von einem Monat nach Bekanntgabe des angegriffenen Verwaltungsaktes oder nach Versagung des erstrebten Verwaltungsaktes einzulegen, § 70 VwGO. Für die Zulässigkeit einer Klage kommt es nicht darauf an, ob das Vorverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, weil darauf der Widerspruchsführer keinen Einfluss hat. Maßgeblich ist, ob das Vorverfahrens ordnungsgemäß durch den Betroffenen eingeleitet worden ist.
[Bearbeiten] Entbehrlichkeit
Die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens ist gemäß § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO gegen Verwaltungsakte von obersten Bundes- oder Landesbehörden entbehrlich. Ein Widerspruchsverfahren finden auch nicht statt gegen Widerspruchsbescheide, die erstmalig eine Beschwer enthalten, weil ein Dritter den Ausgangsbescheid wegen der Verletzung seiner Rechte angegangen ist.
[Bearbeiten] Einlassung zur Sache
Umstritten ist, ob ein zu spät eingelegter Widerspruch bei sachlicher Entscheidung der Behörde geheilt ist. Dies hängt maßgeblich davon ob, worin der Zweck des Widerspruchsverfahrens gesehen wird. Nach einer Meinung liegt der Zweck vorrangig in der Entlastung der Gerichte. Da die VwGO zwingendes Prozessrecht beinhalte, könne die Behörde sich darüber nicht einseitig hinwegsetzen.Die Rechtsprechung hingegen sieht in dem Vorverfahren primär eine Möglichkeit der Selbstkontrolle der Verwaltung: Ihr soll es erneut möglich sein, die Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit einer Entscheidung zu überprüfen. Hierdurch soll auch die Gerichtsbarkeit entlastet werden. Die Fristenregelung dient somit allein dem Schutz der Verwaltung; wenn sie auf diesen Schutz verzichtet, ist eine Verfristung des Widerspruchs geheilt.
[Bearbeiten] Verböserung (reformatio in peius)
Hauptartikel: Verböserung
Die Frage, ob die Widerspruchsbehörde auch dann rechtmäßig verfahre, wenn sie dem Widerspruchsführer einen Widerspruchsbescheid zukommen lässt, der gegenüber dem Ausgangsbescheid eine selbständige zusätzliche Beschwer enthält, ist Gegenstand zahlreicher Meinungsstreitigkeiten. Die Rechtsprechung lässt eine Abweichung des Widerspruchsbescheid zum Nachteil des Widersprechenden vom Ausgangsbescheid zu
[Bearbeiten] Rechtliche Bewertung des Vorverfahrens
Das Vorverfahren hat eine rechtliche Doppelnatur. Einerseits ist es ein gerichtliches Vorverfahren, welches für die Zulässigkeit einer Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage erforderlich ist. Anderseits ist es auch ein Verwaltungsverfahren. Das zeigt sich schon dadurch, dass das Vorverfahren nicht durch das Verwaltungsgericht, sondern durch die Ausgangs- und Widerspruchsbehörde selbst durchgeführt wird. Aus der Sicht der Behörde heißt es darum auch Widerspruchs- oder Einspruchsverfahren. Wegen dieser Doppelnatur stellt sich die Frage, ob für die rechtliche Ausgestaltung die Bundesrepublik Deutschland mit der Verwaltungsgerichtsordnung sachlich zuständig ist oder ob das Vorverfahren Gegenstand der Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes oder der Länder ist. Eine Bewertung muss z.B. bei der Fristberechnung für den Widerspruch oder bei der Verböserung des Ausgangsbescheids durch den Widerspruchsbescheid erfolgen.
[Bearbeiten] Widerspruchsfrist
Der Widerspruch muss innerhalb eines Monats bei der Ausgangsbehörde oder der Widerspruchsbehörde eingereicht sein. Streitig ist, nach welchen Vorschriften sich die Frist berechnet. Wegen der rechtlichen Doppelnatur des Vorverfahrens kommt sowohl eine Fristberechnung nach den Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes (§§79, 31 VwVfG) als auch eine Berechnung nach den Vorschriften der VwGO (§§57 II VwGO, 222 Abs.2 ZPO). Die herrschende Meinung geht von der Berechnung nach §§79, 31 VwVfG aus, weil die Vorschrift zur Widerspruchsfrist (§70 Abs.2 VwGO) nicht auf §57 VwGO verweist. Im Ergebnis führen beide Meinungen zum selben Ergebnis, da sowohl §31 VwVfG als auch §222 Abs.2 ZPO auf die §§187ff. BGB weiterverweisen. Nach §187 Abs.1 BGB ist die Widerspruchsfrist eine Ereignisfrist.
[Bearbeiten] Besonderheiten
Gemäß § 126 Abs. 3 (Rahmengesetz zur Vereinheitlichung des Beamtenrechts - Beamtenrechtsrahmengesetz) muss ein Beamter vor jeder Klage aus dem Beamtenverhältnis ein Vorverfahren durchführen, auch wenn dies in der VwGO nicht vorgesehen ist.
Für das Bundesland Hessen gilt: Vor der Entscheidung über Widersprüche bestimmter Verwaltungsakte ist der Widerspruchsführer durch einen Ausschuss zu hören. Siehe die Einzelheiten in § 7 HessAGVwGO. In Bayern wird im Regierungsbezirk Mittelfranken (VG Ansbach) ein Widerspruchsverfahren als Feldversuch vom 1. Juli 2004 bis 30. Juni 2006 überhaupt nicht durchgeführt. Außerdem ist in Bayern abweichend von der bundesrechtlichen Vorgabe die Widerspruchsbehörde bei Selbstverwaltungskörperschaften zweigeteilt: betreffend die Rechtmäßigkeit entscheidet die Rechtsaufsichtsbehörde (Landratsamt, für kreisfreie Städte und Landkreise die Regierung), betreffend die Zweckmäßigkeit die Behörde der Selbstverwaltungskörperschaft. Wird eine Selbstverwaltungskörperschaft nicht in Selbstverwaltungsangelegenheiten, sondern in Angelegenheiten namens des Staates tätig, so ist Widerspruchsbehörde die Fachaufsichtsbehörde, es sei denn, dass die Fachaufsichtsbehörde eine oberste Landesbehörde ist. In diesem Fall ist die Widerspruchsbehörde die Ausgangsbehörde.
Zu beachten ist, dass im Bereich des Sozialrechts spezialgesetzliche Regelungen gelten. Zwar sind die Regelungen weitgehend identisch bzw. nur geringfügig abweichend, doch gilt für Sozialleistungen wie Leistungen der Kranken- oder Pflegekassen, Rententräger und andere das Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X). Für die im Sozialrecht zuständigen Sozialgerichte gilt damit das Sozialgerichtsgesetz.
Im Strafverfahrens- und im Bußgeldverfahrensrecht versteht man unter dem Vorverfahren das Ermittlungsverfahren.
[Bearbeiten] Siehe auch
- Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)
- Sozialgerichtsgesetz (SGG)
[Bearbeiten] Weblinks
- Widerspruchsbescheid via juratexte.de - Übersicht zur Erstellung eines Widerspruchsbescheides im verwaltungsrechtlichen Vorverfahren. Mit detaillierten Anmerkungen und Textbeispielen (PDF-Format).
- § 68 VwGO
- § 69 VwGO
- § 70 VwGO
- § 75 VwGO
- Gesamtausgabe der VwGO (PDF)
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