Alfred Sohn-Rethel
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Alfred Sohn-Rethel (* 4. Januar 1899 in Neuilly-sur-Seine bei und heute in Paris; † 6. April 1990 in Bremen) war Nationalökonom, erkenntnistheoretischer Philosoph und Industriesoziologe.
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[Bearbeiten] Leben
Er war der Urenkel des Historienmalers Alfred Rethel, Ur-Urenkel des Miniaturmalers August Grahl und entstammte einer Familie von Malern mit großbürgerlicher Verwandtschaft. Sein gleichnamiger Vater (1875-1958) ist als Maler stilistisch der traditionalistischen Pariser Salonmalerei des 19. Jhs. einzuordnen, seine Mutter Anna Michels (1874-1957) kam aus dem jüdischen Elternhaus Oppenheim und verfügte daher über Beziehungen zu einflussreichen Kreisen in der Industrie und Hochfinanz.
Damit er nicht auch noch zu einem Maler werden würde, sollte er in einem amusischen Haushalt aufwachsen, nämlich bei dem familiär befreundeten Düsseldorfer Stahlindustriellen Ernst Poensgen, und später Wirtschafts- oder Naturwissenschaften studieren. Zu Weihnachten 1915 wünschte er sich von Pflegevater Poensgen die drei Bände des Kapitals, die er auch tatsächlich erhielt und dann äußerst gründlich zu studieren begann. Sohn-Rethel wurde 1928 in Heidelberg beim austromarxistischen Ökonom Emil Lederer in Nationalökonomie promoviert. In seiner Dissertation kritisiert er die Theorie des Grenznutzens als eine "petitio principii", da diese Richtung den "Zahl"-Begriff stillschweigend voraussetzt. Seine theoretischen Fragestellungen und Theorieansätze sowie sein geistiger Hintergrund weisen eine Verwandtschaft mit dem Denken der Kritischen Theorie auf. 1924 lernte er auf der Insel Capri Adorno und Kracauer kennen. Schon in Heidelberg war er seit 1920 mit Ernst Bloch befreundet und seit 1921 mit Benjamin bekannt. Von da an stand er zeitlebens in Kontakt mit den Vertretern der Frankfurter Schule, insbesondere mit Theodor W. Adorno. Es kam aber wegen Horkheimers Befürchtung einer zu spekulativen Gesellschaftskritik zu keiner festen Zusammenarbeit.
Durch Vermittlung von Poensgen gelangte er zu einer hilfswissenschaftlichen Tätigkeit beim Mitteleuropäischen Wirtschaftstag (MWT). Der MWT war eine Lobby-Organisation der wirtschaftlich führenden Sektoren der deutschen Exportindustrie. Dort konnte er von 1931 bis 1936 unerkannt "in der Höhle des Löwen" und aus nächster Nähe "im zweiten Rang Mitte" das machtpolitische Geschehen beobachten und analysieren. Gleichzeitig hielt er Kontakt zu linkssozialistischen Widerstandsgruppen wie den Gruppen "Neu Beginnen" und "Roter Stoßtrupp". 1937 emigrierte er über die Schweiz und Paris nach England. Dort verfasste er wirtschaftspolitische Analysen für den Kreis um Churchill, der sich gerne mit den Arbeiten von deutschen Emigranten munitionierte, um sich gegen Chamberlains Appeasement-Politik durchsetzen zu können.
Nach dem Zweiten Weltkrieg trat er in die kommunistische Partei Englands ein. Er war zwar bald ernüchtert angesichts ihres Dogmatismus, hielt ihr aber dennoch bis 1972 die Treue. Erst spät im Leben erfuhr er seine Entdeckung durch die 68er-Bewegung. Suhrkamp-Verleger Unseld machte anlässlich des Begräbnisses von Adorno 1969 die Bekanntschaft mit Sohn-Rethel. Auf dessen Zuraten verfasste Sohn-Rethel sein opus magnum Geistige und körperliche Arbeit, womit er im undogmatischen Teil der Studentenbewegung großen Anklang fand. Besonders Hans-Jürgen Krahl und Oskar Negt waren sehr von seiner materialistischen Erkenntnistheorie beeindruckt. Auf Fürsprache und Vermittlung von Negt erhielt Sohn-Rethel 1978 eine Honorarprofessur am mathematischen Fachbereich der Universität Bremen, die er bis Mitte der 80er Jahre innehatte. In der industriesoziologischen Forschung der 70er und 80er Jahre hatte er mit seinem Subsumtionstheorem einen großen Einfluss vor allem beim Institut der Frankfurter Schule, dem Institut für Sozialforschung (IfS).
[Bearbeiten] Theoretische Arbeit
Getreu der Marxschen These, wonach alle Ökonomie in Zeit mündet, steht das zeitökonomische "Theorem der reellen Subsumtion" im Gegensatz zur Marktökonomie. Denn der Zeitimperativ beschränke sich nicht nur auf die Wirtschaft, sondern erstrecke sich universal auf alle gesellschaftlichen Erscheinungsformen. Subsumtion im engeren Sinne bedeutet "... die Scheidung der geistigen Potenzen des Produktionsprozesses von der Handarbeit." (MEW 23, 446) Allgemein steht die Subsumtion für "die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft Arbeit durch die bewusste Organisation von Arbeitsteilung und Kooperation und die gezielte Nutzung von Naturwissenschaft und Technik unter der Kontrolle des Kapitals für die Produktion des relativen Mehrwerts." (Bergmann 1989)
Sohn-Rethels zeitlebens beharrlich verfolgtes Ziel war die Verbindung der Erkenntniskritik Immanuel Kants mit der „Kritik der Politischen Ökonomie“ von Karl Marx zu einer materialistischen Erkenntnistheorie und -kritik. In der Realabstraktion des Warentausches sah Sohn-Rethel die entscheidende Bedingung für den Erwerb formal-abstrakten Denkens. Sämtliche Kantschen Kategorien waren für ihn im Warentausch immanent enthalten: Raum, Zeit, Quantität, Qualität, Substanz, Akzidenz, Bewegung, Wert usw. Darüber hinaus lieferte er wertvolle Einsichten in die wirtschaftspolitischen Zusammenhänge, insbesondere beim ökonomischen und politischen Aufstieg des "Deutschen Faschismus" (Nationalsozialismus). Hier legte er vor allem Wert auf die Unterscheidung zwischen dem wirtschaftlich prosperierenden "Brüning-Lager" (Elektro-, Chemie-, Maschinenbauindustrie, Großbanken) und den defizitären Industriezweigen der Harzburger Front (Stahl-, Montan-, Bau- und Betonindustrie - mit Ausnahme von Krupp). Erst die Zustimmung der I.G. Farben-Generalversammlung Anfang Dezember 1932 zum Programm der "Agrarkartellierung", einem Interessenkompromiss von Industrie und Großagrariern, habe den Weg für eine Diktatur freigemacht.
[Bearbeiten] Werke
- Die politischen Büros der deutschen Großindustrie. In: Blick in die Welt. 1948 (15), S. 20 - 22, 1948
- Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie gesellschaftlicher Synthesis. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1970
- Die soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus. Erstmals anonym erschienen in: Deutsche Führerbriefe. Nr. 72 und 73, Berlin 16. und 20. Sept. 1932
- Ein Kommentar nach 38 Jahren. In: Kursbuch. 21, Sept. 1970, S. 17 - 35, 1970
- Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973
- Warenform und Denkform. Mit zwei Anhängen [incl. Dissertation]. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1978
- Soziologische Theorie der Erkenntnis. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-518-11218-X
- Das Ideal des Kaputten. Über neapolitanische Technik. In: L'invitation au voyage zu Alfred Sohn-Rethel. Bettina Wassmann, Bremen 1979, ISBN 3-9800243-0-X
- Produktionslogik gegen Aneignungslogik. In: Peter Löw-Beer: Industrie und Glück. Der Alternativ-Plan von Lucas Aerospace. S. 195 - 210, Wagenbach, Berlin 1981
- Alfred Sohn-Rethel, Stefan Breuer, Bodo von Greiff: Differenzen im Paradigmakern der Kritischen Theorie, Teil II. In: Leviathan. 14 (2), S. 308 - 320, 1986
- Geistige und körperliche Arbeit. Zur Epistemologie der abendländischen Geschichte. Revidierte und ergänzte Neuauflage, VCH, Weinheim 1989, ISBN 3-05-003970-1
- Das Geld, die bare Münze des Apriori. Wagenbach, Berlin 1990, ISBN 3-8031-5127-9
- Theodor W. Adorno und Alfred Sohn-Rethel. Briefwechsel 1936-1969. Herausgegeben von Christoph Gödde, edition text + kritik, München 1991, ISBN 3-88377-403-0
- Industrie und Nationalsozialismus. Aufzeichnungen aus dem »Mitteleuropäischen Wirtschaftstag«. Herausgegeben. und eingeleitet von Carl Freytag, Wagenbach, Berlin 1992
[Bearbeiten] Literatur
- Margret Boveri: Erinnerte Mutmaßungen. In: Neue Deutsche Hefte. Beiträge zur europäischen Gegenwart. 16, S. 205 - 208, 1969
- Michael Springer: Sohn-Rethel schlägt Habermas. In: Neues Forum. Österreichisches Monatsblatt für kulturelle Freiheit. Nov./Dez. 1971, S. 38 - 41, 1971
- Harun Farocki: Nicht nur die Zeit, auch die Erinnerung steht stille. In: Filmkritik, 22 (263), S. 562 - 606; darin: Meine Existenz war da ziemlich im Hinterzimmer. Ein Gespräch mit Alfred Sohn-Rethel, 1974, über die Quellenlage der antikapitalistischen Forschung. S. 580 - 582, 1978
- Heinz D. Dombrowski, Ulrich Krause, Paul Roos (Hrsg.), Symposium Warenform - Denkform. Zur Erkenntnistheorie Sohn-Rethels. Campus, Frankfurt am Main 1978
- Bettina Wassmann, Joachim Müller (Hrsg.): L'invitation au voyage. Festschrift für Alfred Sohn-Rethel. Wassmann, Bremen 1979
- Rudi Schmiede: Abstrakte Arbeit und Automation. Zum Verhältnis von Industriesoziologie und Gesellschaftstheorie. In: Leviathan. 11 (1), S. 55 - 78, 1983
- Karl-Siegbert Rehberg: Sohn-Rethel, Alfred. In: Wilhelm Bernsdorf und Horst Knospe (Hrsg.): Internationales Soziologenlexikon. Bd. 2, S. 803 - 805, Enke, Stuttgart 1984
- Oskar Negt: Laudatio für Alfred Sohn-Rethel. In: Leviathan. 16 (2), S. 140ff., 1988
- Joachim Bergmann: „Reelle Subsumtion“ als arbeitssoziologische Kategorie. In: Wilhelm Schumm (Hrsg.): Zur Entwicklungsdynamik des modernen Kapitalismus. Beiträge zur Gesellschaftstheorie, Industriesoziologie und Gewerkschaftsforschung. Symposium für Gerhard Brandt. S. 39 - 49, Campus, Frankfurt am Main 1989
- »Einige Unterbrechungen waren wirklich unnötig«. Gespräch mit Alfred Sohn-Rethel in: Mathias Greffrath : Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern. S. 213 - 262, Campus, Frankfurt am Main 1989
- Stefan Berkholz: Ein Marxist in der Höhle der Kapitalisten. Ein Besuch bei dem Sozialphilosophen Alfred Sohn-Rethel. In: Die Zeit vom 24. November 1989, S. 66, 1989
- Carl Freytag: Linkes Profilierungselend und linke Streitkultur. Zu einer Attacke auf Alfred Sohn-Rethel. In: Freibeuter. Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik. 11 (44), S. 14 – 22, 1990
- Carl Freytag: Alfred Sohn-Rethel. Geistige und körperliche Arbeit. In: Walter Jens (Hrsg.): Kindlers neues Literatur Lexikon. Bd. 15, S. , S. 681 - 682, Kindler, München 1991
- Martin Seckendorf: Besprechung von „Alfred Sohn-Rethel, Industrie und Nationalsozialismus“. In: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. 8 (2), S. 102 – 105, 1999
- Martin Seckendorf: Entwicklungshilfeorganisation oder Generalstab des deutschen Kapitals? Bedeutung und Grenzen des Mitteleuropäischen Wirtschaftstages. In: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. 8 (3), S. 10 – 33, 1999
- Carl Freytag: »Kann man leben von seinem Genie?« Alfred Sohn-Rethel in Heidelberg. In: Rainer Blomert, Hans Ulrich Eßlinger und Norbert Giovannini (Hrsg.): Heidelberger Sozial- und Staatswissenschaften. Das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften zwischen 1918 und 1958. S. 329 – 347, Metropolis, Marburg 1997
- Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Briefwechsel 1927 - 1969. Bd. 1, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003
[Bearbeiten] Weblinks
- Literatur von und über Alfred Sohn-Rethel im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Diskussion in Radio Bremen über sein Lebenswerk anlässlich seines 100. Geburtstages
- Sohn-Rethel Website der Universität Bremen
- Drittes Kapitel seiner Dissertation
- Inhaltsangabe zu "Das Geld, die bare Münze des Apriori"
- Doppel-CD »Alfred Sohn-Rethel - Zeitlebens Außenseiter« mit Originalton A.S-R.
Personendaten | |
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NAME | Sohn-Rethel, Alfred |
KURZBESCHREIBUNG | Volkswirtschaftler, Philosoph und Industriesoziologe |
GEBURTSDATUM | 4. Januar 1899 |
GEBURTSORT | Neuilly-sur-Seine, Frankreich |
STERBEDATUM | 6. April 1990 |
STERBEORT | Bremen, Deutschland |