Der Fall Maurizius
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Der Fall Maurizius ist ein Roman von Jakob Wassermann, erschienen 1928.
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[Bearbeiten] Handlung
[Bearbeiten] Vorgeschichte
Der 16-jährige Gymnasiast Etzel Andergast lebt in Frankfurt am Main im Hause seines Vaters, des Oberstaatsanwalts Wolf Freiherr von Andergast. Der Anwalt heißt im Volk wegen seiner Unerbittlichkeit der blutige Andergast. Etzels Mutter, Sophia von Andergast, konnte den Vater nicht ertragen, beging Ehebruch und lebt gezwungenermaßen im Ausland.
Peter Paul Maurizius, ehemaliger Ökonom und Gutsbesitzer, wohnhaft in Hanau, Marktstraße 17, konfrontiert den jungen Etzel mit dem Fall seines Sohnes Dr. Otto Leonhart Maurizius, der bereits reichlich 18 Jahren im Zuchthause zu Kressa sitzt. Leonhart Maurizius soll seine Ehefrau Elli erschossen haben. Etzels Vater hatte in den Jahren 1905 und 1906 den jungen Dozenten Maurizius in einem Prozess lebenslänglich hinter Schloss und Riegel gebracht.
Etzel darf am Tisch seines Vaters weder von seiner Mutter noch vom Fall Maurizius reden. Also fährt er heimlich hinaus nach Hanau und redet mit dem alten Maurizius. Etzel erfährt, der 23-jährige Maurizius hatte die vermögende 38-jährige Witwe Elli Hensolt, geborene Jahn, geehelicht - in Erwartung von achtzigtausend Mark geerbtem Vermögen. Elli hatte eine 19jährige Schwester - die erstaunlich schöne Anna Jahn. Der junge Maurizius verliebte sich in Anna. Vor seiner Verbindung mit Elli hatte er ein uneheliches Kind mit Gertrud Körner gezeugt. Als Gertrud starb, beauftragte er Anna hinter dem Rücken Ellis, sein nunmehr zweijähriges Kind Hildegard nach England zur Pflege zu bringen.
Etzel erfährt weiter vom alten Maurizius, im Mordfall gibt es einen Kronzeugen. Der heißt Gregor Waremme und hat sich als Privatlehrer Georg Warschauer in Berlin in der Usedomstraße, Ecke Jasmunder Straße, versteckt.
Etzel, von der Unschuld des jungen Maurizius überzeugt, erbittet von seiner Großmutter, der Generalin Cilly von Andergast, dreihundert Markt und fährt heimlich nach Berlin. Er will den Mord an Elli Maurizius, der zwei Jahre vor seiner Geburt geschah, aufklären. Etzel verfügt über einen auffallenden Scharfsinn oder Spürsinn, eine Art Indianerinstinkt, wenn es gilt, verborgene Dinge oder Umstände ans Licht zu bringen (117).
Anna, die Alleinerbin von Ellis Vermögen, lebt inzwischen als Frau Duvernon und Mutter von zwei Kindern, zurückgezogen in der Nähe von Trier.
[Bearbeiten] Oberstaatsanwalt von Andergast
Vor seiner Abreise hat Etzel dem Vater einen Brief geschrieben. In dem setzt er dem Oberstaatsanwalt die Gründe seines Verschwindens auseinander: ich will die Wahrheit finden (107). Etzels Großmutter wirft ihrem Sohn, dem Oberstaatsanwalt, vor, sein Kasernenregiment habe die Nacht- und Nebel-Aktion des Jungen verschuldet, und er habe seine Gattin, die arme Sophia wie einen Hund hinausgejagt in die Welt (111). Sophias Liebhaber habe er in den Tod getrieben. Der zerknirschte Oberstaatsanwalt lässt schließlich die verstaubten Akten Maurizius aus den Jahren 1905 und 1906 aus dem Landgericht (126) nach Hause kommen und betrachtet die 18 Jahre zurückliegenden Ereignisse neu.
Bald stößt der Oberstaatsanwalt auf einen Schönheitsfehler im Prozeß: das fehlende Geständnis (131). Beim Weiterlesen denkt er: Es stimmt was nicht in dem Prozeß, aber was? (134) Das Unheil hatte bald nach der Auseinandersetzung wegen des Kindes Hildegard (140) begonnen. Elli hatte ihre Schwester verflucht und gedroht, erst Anna und dann sich umzubringen (153). Waremme hatte Anna als Sekretärin eingestellt. Der junge Maurizius hatte nicht mehr ohne Anna sein können. Anna, die Veranlasserin des Zerwürfnisses zwischen den Ehegatten, hatte sich mit ihm an öffentlichen Orten gezeigt. Der Oberstaatsanwalt betrachtet noch einmal den Tathergang. Waremme hatte gesehen, wie Maurizius den Revolver aus der Manteltasche holte, wie er auf die eigene Frau gezielt hatte.
Herr von Andergast betont, sein Besuch beim Zuchthaussträfling Maurizius trage keinen amtlichen Charakter, sondern sei durchaus von privaten Erwägungen eingegeben (235). Maurizius ist erstaunt. Seit Jahr und Tag ist dies der erste Besuch von "draußen" in seiner Zelle, der in seiner Sprache mit ihm spricht (259). Er glaubt nach 18 Jahren Haft immer noch an seine Rehabilitation. Denn wie soll ein Mann eine Tat gestehen, die er nicht verübt hat? Der Oberstaatsanwalt kann nicht begreifen, warum Maurizius während des Prozesses und die vielen Jahre danach geschwiegen hat.
Weil ich nicht einen Mord begehen wollte, erwidert der Inhaftierte. Der Besucher kann die Antwort nicht verstehen. Dann begreift er doch. Anna soll geschont werden. Warum?
Maurizius erinnert sich an seine Heirat. Er dachte besonders klug zu handeln, als er Elli zum Weibe nahm, und er besaß nicht einmal die oberflächlichste Kenntnis ihres Wesens (338). Herr von Andergast traut seinen Ohren kaum, als er von Maurizius nun erfährt, Maurizius lernte Anna damals als 19-jährige kennen, hingegen Kronzeuge Waremme kannte Anna bereits als 17-jährige. Sie war von ihm als Siebzehnjährige vergewaltigt worden (343).
Als dann die arbeitslose Anna bei der um 20 Jahre älteren Schwester Elli Schutz suchte, war ihr Waremme gefolgt. Waremme, ein Polyglott, ein neuer Winckelmann, ein Poet, ein Kerl von Gottes Gnaden (342), befreundete sich mit Maurizius. Waremme, ein zu despotischer Mensch, liebte den Freund, dann hasste er ihn. Maurizius wusste nicht die Ursache. So direkt hatte Waremme die Vergewaltigung nicht zugegeben. Maurizius hatte das Opfer befragt. Anna hatte das Verbrechen, das Waremme an ihr verübt hatte, bestätigt.
Dann geht Maurizius auf die Auseinandersetzungen ein, die wegen seines Kindes Hildegard begannen und mörderisch endeten: Es war eine perfekte Zermalmungsprozedur, wo jeder zugleich Rad und geräderter war. Anna zwischen mir und Waremme, Elli zwischen mir und Anna, Anna zwischen Elli und mir, ich zwischen Anna und Waremme und Elli zwischen allen dreien. Das ging Tag für Tag, Woche um Woche, bis ans entsetzliche Ende (359). Elli konnte die Hinwendung ihres Gatten zu der Schwester nicht ertragen. Eine blutgierige reißende Wölfin brach aus ihr heraus, als sie sich gegen die Schwester kehrte (366).
Der Oberstaatsanwalt bedenkt nach dem Zuchthausbesuch alle Fakten aus den Akten wie auch die neuesten Eröffnungen des Inhaftierten und resümiert, daß Waremme einen Meineid geschworen haben mußte (381). Damals hatte Herr von Andergast Ungereimtheiten betreffs der Tatwaffe zu Ungunsten von Leonhart Maurizius ausgelegt, den Zufallszeugen zu viel Glaubwürdigkeit beigemessen etc.
Herr von Andergast sieht dem unvermeidlichen Besuch seiner geschiedenen Frau Sophia mit gemischten Gefühlen entgegen. Sie wird ihn für Etzels Verschwinden verantwortlich machen. Er kann ihr und ihren Vorwürfen nicht ausweichen. In der Auseinandersetzung bezeichnet Sophia ihren Ehebruch als mißlungenen Fluchtversuch aus einem Kerker (387) und erinnert den Herrn von Andergast u.a. daran, dass sie an die Schuld des Maurizius nie glauben konnte (385).
Der Oberstaatsanwalt fasst die Entlassung von Maurizius auf dem Gnadenweg (392) ins Auge, besucht Maurizius noch einmal und legt dem Justizminister in einer Depesche die sofortige Begnadigung des Strafgefangenen Maurizius dringend nahe (419).
[Bearbeiten] Gymnasiast Etzel
Bedachtsam, behutsam und listig schleicht sich Etzel ins Berliner Wohnumfeld Waremmes ein. Schließlich deutet der Junge an, der Grund seines Besuchs sei der Fall Maurizius. Waremme schaut auf den Knaben herab. Unbeirrt breitet der Junge Details aus, die er vom alten Maurizius erfahren hat. Der Alte wolle nicht eher sterben, als bis sein Sohn Leonhart aus dem Zuchthaus entlassen ist (265). Mutig bohrt Etzel. Waremmes Meinung ist gefragt. Hat Leonhart Maurizius Schuld? Ganz langsam taut Waremme auf, offenbart, dass er Anna begegnet ist, bevor sie ihren künftigen Schwager kennen lernte.
Etzel bedeutet Waremme seine feste Meinung im Fall Maurizius: Das Urteil ist falsch, das Urteil ist ein Justizmord... Dem Menschen muß Gerechtigkeit widerfahren (435).
Etzel stellt dem Kronzeugen die Gewissensfrage: Wer hat geschossen? Hat sie geschossen, die Anna Jahn? (442) Waremme klappern die Zähne, als er gesteht: Nu ja, sie hat geschossen (442). Der Meineidige hat auch eine Erklärung parat: Daß sie [Anna] ihn [Maurizius] so über alles Maß liebte, verzieh sie ihm nicht und verzieh sie sich selber nicht. Dafür mußte er seine Strafe leiden. Er durfte nicht mehr auf der Welt sein. Daß sie die Schwester erschossen hatte um seinetwillen, durfte niemals ein Weg von ihm zu ihr werden (444). Seine Kronzeugenschaft kommentiert Waremme: Der Meineid ist längst verjährt (446). Der umsichtige Etzel hat eine Ohrenzeugin für dieses späte Geständnis in petto.
[Bearbeiten] Ende
1927 wird Leonhart Maurizius aus dem Zuchthaus entlassen. Der Freigelassene erkennt die Welt nicht wieder. Die Damen tragen kurze Röcke und helle Seidenstrümpfe (455). Daheim in Hanau hat der gute Vater alles für den lieben Sohn vorbereitet: Wäsche, alle möglichen Utensilien für den feinen Herrn und Geld. Peter Paul Maurizius setzt sich in den Kanapeewinkel, und als Leonhart nach seinem Vater sieht, ist der tot.
Leonhart Maurizius will zu Hildegard, seinem Kind. Der Weg zu der Tochter wird ihm verrammelt. Hildegard wurde ins Ausland geschickt. Maurizius sucht Anna, verehelichte Duvernon, auf. Anna, aus Angst zum Stelldichein getrieben, ist heilfroh, als es ohne negative Folgen für sie vorüber ist. Die Jahre haben ihre Schönheit zerstört. Die Wunderlosigkeit ist übrig geblieben. Maurizius tötet sich durch einen Sprung in die Tiefe, als sein Eisenbahnzug über ein Viadukt rattert.
Oberstaatsanwalt von Andergast ersucht um seine Pensionierung. Als Etzel heimkommt, erlebt er zum ersten Mal, wie der Vater die Beherrschung verliert, als er seiner ansichtig wird. Etzel, der von der Begnadigung erfährt, schreit den Vater an: Wenn er unschuldig ist, braucht er doch die Gnade nicht! (482)
Ich will nicht dein Sohn sein! (486) herrscht Etzel den fassungslosen Vater weiter an. Der Oberstaatsanwalt, halb offenen Mundes (487), muss in eine Heilanstalt gebracht werden. Etzel sagt: Man soll meine Mutter holen. Was auch geschieht (488).
[Bearbeiten] Figuren
- Gymnasiast Baron Etzel von Andergast.
- Oberstaatsanwalt Wolf Freiherr von Andergast, Etzels Vater.
- Sophia von Andergast, Etzels Mutter.
- Cilly von Andergast, die Generalin genannt, Witwe, Etzels Großmutter.
- Dozent Dr. Otto Leonhart Maurizius, Verfasser von Geschichte des Madonnenkults auf Grund bildnerischer Darstellungen (258), Sträfling 357 im Zuchthause zu Kressa.
- Peter Paul Maurizius, Leonharts Vater.
- Elli Maurizius, verwitwete Hensolt, geborene Jahn (64).
- Anna Jahn, arbeitslose Schwester Ellis.
- Hildegard Körner, Leonharts uneheliche Tochter.
- Gertrud Körner, Tänzerin, Hildegards Mutter.
- Gregor Waremme, alias Georg Warschauer, Privatlehrer, Philolog, Philosoph, Spieler, Salonlöwe, Weiberheld.
[Bearbeiten] Zitate
- Wo nicht gesprochen wird, ist auch kein Widerspruch (97).
- Jede Generation ist eine Gattung für sich, gehört einem andern Baum an (249).
- Die höhere Welt wird nur durch das Gleichnis erschlossen (293).
- Ein Weib versteht nicht, was das ist, die Zeit des Mannes (294).
- Der Sehende wird kalt (307).
- Vielleicht entsteht die Wahrheit erst durch die Zeit und in der Zeit? (378)
- Manche Leidenschaft verdankt ihre Entstehung nur der Furcht vor der Leere (387).
- Verantwortungen werden immer dann zu groß, wenn man sich ihnen entziehen will (465).
- Teilhat jeder an der Gerechtigkeit, wie er teilhat an der Luft (484).
[Bearbeiten] Literatur
Quelle
- Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius. Rütten & Loening, Berlin 1976. 488 Seiten
Ausgaben
- Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius. Roman. Frankfurt am Main 2005, ISBN 3458347844
Sekundärliteratur
- Margarita Pazi in: Gunter E. Grimm, Frank Rainer Max (Hrsg.): Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Band 7: Vom Beginn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. S. 40 - 46. Stuttgart 1991, ISBN 3150086175
- Rudolf Koester: Jakob Wassermann. Berlin 1996, ISBN 3371003841
- Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 - 1918. S.377. München 2004, ISBN 3406521789
- Gero von Wilpert: Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren A - Z. S.651. Stuttgart 2004, ISBN 3520837048