Historizismus
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Historizismus als philosophischer Begriff bezeichnet die teleologische und deterministische Auffassung, dass Geschichte zielgerichtet verläuft. Dies beinhaltet unter anderem, dass geschichtliche Ereignisse durch bestimmte vorhergehende Ereignisse (oder Ereigniskonstellationen) verursacht werden und daher eine Vorhersage oder Prophezeiung denkbar ist. Außerdem kann gegenwärtiges Handeln unter den Annahmen des Historizismus durch geschichtliche Entwicklungen gerechtfertigt werden.
Für den Begriff wurden verschiedene, durchaus divergente Bedeutungen entwickelt. Einflussreich wurde der historizistische Gedanke insbesondere mit den Werken von Hegel und Karl Marx.
Ende des 19. Jahrhunderts erlangte der Historizismus in der Historischen Rechtsschule und der Historischen Schule der Nationalökonomie allergrößte Bedeutung. Anhänger sind zum Beispiel Max Weber, Karl Bücher und Werner Sombart. Die Frage nach der Einbeziehung der Gesellschaft in Bezug auf menschliches Sein und die Frage nach dem Individuum wurde unter anderem aufgenommen von Friedrich Nietzsche, John Dewey und Michel Foucault. Karl Popper attackierte den Historizismus aufgrund dessen deterministischer Wurzeln. Im Poststrukturalismus wird der eng verwandte Begriff des New Historicism angewandt, welcher sowohl Hegel als auch anthropologische Aspekte mit einbezieht.
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[Bearbeiten] Varianten
[Bearbeiten] Hegelianischer Historizismus
Die historizistische Position Hegels behauptet, dass jede Gesellschaft und menschliche Tätigkeiten wie Wissenschaft, Kunst oder Philosophie sich durch ihre Geschichte definieren. Ihre jeweilige Essenz kann daher nur durch Studium ihrer Geschichte erschlossen werden. Hegel spricht dies aus mit dem Satz: "Philosophie ist die Geschichte der Philosophie." Diese Position lässt sich gut illustrieren als Kontrast zum Atomismus und zum Reduktionismus. Hegel sieht das Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft als organischen Diskurs, das Medium der Sprache nutzend. Um ein Individuum zu verstehen gilt es also, sich dessen Geschichte und der Entwicklungen in seiner Gesellschaft klar zu werden. Der Zeitgeist ist dabei eine Zusammenstellung der wichtigsten Faktoren einer Epoche. Diese Ansicht steht der teleologischen Ansicht ebenso entgegen wie der Theorie des tabula rasa. Dieser Ansatz lässt sich verschieden interpretieren, man unterscheidet zwischen einer sogenannten alt- oder rechtshegelianischen und einer jung- oder linkshegelianischen Richtung.
Der Richtungsstreit zwischen den beiden Richtungen konzentrierte sich auf die Rechts-, Staats- und Religionsphilosophie. Rechtshegelianer sahen in Hegel einen Vollender der christlichen Philosophie und bauten an einer hegelianischen Theologie. Linkshegelianer reklamierten bezüglich der Gottesfrage einen philosophisch begründeten Atheismus. Prominentester Vertreter der Atheismus-These war Ludwig Feuerbach, in dessen Folge Hegels Philosophie als Aufforderung zur Realisation des Vernünftigen verstanden wurde.
[Bearbeiten] Kritik: Singularität der Geschichte
Die gegenteilige Auffassung, nach welcher sämtliche Kulturerscheinungen unter dem Gesichtspunkt ihrer einzigartigen historischen Entstehung und der damit verbundenen Eigengesetzlichkeit zu betrachten seien, setzte im deutschsprachigen Raum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Diese Auffassung basiert zum Teil noch auf dem Glauben an einzelne herausragende Persönlichkeiten, den Genies, welche die Weltgeschichte allein in andere Bahnen zu lenken in der Lage sind. Die Existenz einer realen Außenwelt wird negiert, explizit etwa von Arthur Schopenhauer. Man bedient sich deshalb bei der Untersuchung einer verstehenden (hermeneutischen) Methodik, die in immer größerem Ausmaß zu begreifen versucht.
[Bearbeiten] Anthropologischer Historizismus
Für die Anthropologie entwickelte Franz Boas die Variante des historischen Partikularismus. Boas setzte sich für eine Betrachtung von Kulturkreisen einschließlich ihrer religiösen, historischen, sprachlichen und künstlerischen Aspekte ein. Besonders spezielle Kulturgeschichten kleinerer Regionen werden betont, die durch linguistische und ethnologische Studien verbunden werden sollen. Boas lehnte also den Evolutionismus als Zeitgeist insofern ab, als dass es kein allgemein-normatives Entwicklungsspektrum gibt, sondern jede Region und jede Kultur andere Adaptionen erfordert. Boas wurde neben Malinowski und Luschan zum Wegbereiter der modernen Ethnologie.
[Bearbeiten] Poppers Kritik am Historizismus
Karl Poppers Kritik richtet sich gegen den Aspekt des Historizismus als sozialwissenschaftliche Theorie, die - wie der Marxismus - behauptet, der Verlauf der Geschichte sei objektiven Gesetzen unterworfen, deren Kenntnis es ermögliche, verlässliche Voraussagen über zukünftige Entwicklungen zu machen.
Für Popper ist Historizismus schon rein logisch ein Ding der Unmöglichkeit, weil sich der Fortschritt unseres Geistes und der Wissenschaft, zweifellos von maßgeblichen Einfluss auf die Geschichte, gedanklich nicht vorwegnehmen lässt: eine Entdeckung ist unvorhersehbar, sonst wäre sie keine Entdeckung (Atomenergie usw.). Der Anspruch der Historizisten, den zukünftigen Verlauf der Geschichte zu kennen, ist ein unerfüllbares Unterfangen. In Anspielung auf Marx Schrift Das Elend der Philosophie nennt Popper seine Widerlegung Das Elend des Historizismus.
[Bearbeiten] Geschichtsverlauf in Quantensprüngen
Hinsichtlich der Menschheitsgeschichte besteht für den Historizismus ein Problem darin, dass sich die Geschichte der Menschen des Industriezeitalters von der viel längeren Menschheitsgeschichte davor bedeutsam unterscheidet: Die Wirkungsmöglichkeiten des einzelnen Menschen wurden in einer Art gesteigert, für die es keine geschichtlichen Vergleichsmöglichkeiten gibt. Der Energieumsatz, den ein einzelner Mensch steuern kann, ist seit Beginn des Industriezeitalters massiv gestiegen. Dieser Umstand schmälere oder verunmögliche die Chancen, von Mustern aus einer vergleichbar wachstumsschwachen Vorgeschichte gegenwärtige und zukünftige Muster abzuleiten.
Dieser Kritik wird im Gegenzug entgegengehalten, dass es in der Menschheitsgeschichte zahlreiche andere Quantensprünge mit äußerst radikalen Konsequenzen für den Menschen gibt: Erfindung des Rades, Ackerbau, Pflanzen- und Tierzucht, Eisenschmiedekunst, Geldverkehr, Genetik, Atomkraft, Informatik. Außerdem gibt es durchaus Konstanten durch die gesamte Menschheitsgeschichte: Fortpflanzungstrieb, Ressourcenbeschaffung, Lebensraumerweiterung, Umweltbeherrschung, Drogengebrauch, Machtvermehrung, Kriminalität und Krieg.
[Bearbeiten] New Historicism
Seit 1950 argumentierten Jacques Lacan und Michel Foucault, dass jede Epoche ein mehr oder weniger komplett eigenes System des Wissens besitze. Viele Post-Strukturalisten teilen die Ansicht, dass jede Fragestellung nur in ihrem eigenen kulturellen und sozialen Kontext beantwortbar ist. Antworten lassen sich nicht im Bezug auf ewige Wahrheiten finden. Es werden vielmehr lediglich die heute noch bestehenden Texte, Gegenstände oder andere Überlieferungen als aussagekräftig anerkannt. Diese Geistesrichtung wird häufig als New Historicism bezeichnet (siehe auch: Historismus).
[Bearbeiten] Literatur
- Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christenthums, 1841.
- Boas, Franz [Hg.]: Die fremde Welt der Kwakiutl. Indianische Mythen der Nord-Westküste Kanadas, Zerling 1994 ISBN 3884680579
- Boas, Franz: Rasse und Kultur. (Rede, gehalten am 30. Juli 1931 in der Aula d. Christian-Albrechts-Univ. in Kiel) Vl.g G. Fischer. Jena. 1932.
- Karl Popper: Das Elend des Historizismus (1957) ISBN 3-16-148025-2
- Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 2 Bände. 1. Der Zauber Platons. 2. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1992
- Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1993, ISBN 3484701226
- Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, 1960.
[Bearbeiten] Weblinks
- Anthropologie
- Karl Raimund Popper
- New Historicism