Humanistische Union
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Die Humanistische Union (HU) ist eine deutsche Bürgerrechtsvereinigung. Sie hat sich die Verwirklichung einer umfassenden Informationsfreiheit und mehr direkte Demokratie sowie die Abschaffung des geheimdienstlichen Verfassungsschutzes zum Ziel gesetzt. Eine Trennung von Staat und Kirchen steht von Beginn an auf dem Programm - daher auch eine bis heute kritische Haltung zu kirchlichen Privilegien und dem kirchlichen Religionsunterricht. Die Humanistische Union wurde 1961 in München gegründet und ist damit die älteste noch bestehende Bürgerrechtsorganisation Deutschlands. Sie hat etwa 1.200 Mitglieder.
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[Bearbeiten] Geschichte
Die Humanistische Union wurde am 28. August 1961 auf Initiative von Gerhard Szczesny gegründet. Die Gründungsmitglieder sahen die HU zum damaligen Zeitpunkt allerdings weniger als eine Bürgerrechtsorganisation an, sondern vielmehr als eine lose Vereinigung linksliberaler Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die eine Gegenöffentlichkeit zur herrschenden christlich-konservativen Grundstimmung der Adenauer-Ära herstellen sollte.
Ein erklärtes Gründungsziel war die „Befreiung des Menschen aus den Fesseln obrigkeitsstaatlicher und klerikaler Bindungen“. Das Prinzip der „geistigen Bevormundung“ durch Staat und Kirche sollte dem Grundsatz der Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung des Einzelnen weichen. Wissenschaft, Presse, Literatur, Kunst und Kultur sollten sich ohne staatlichen oder kirchlichen Einfluss auf Basis der freiheitlichen demokratischen Rechtsordnung des Grundgesetzes frei entfalten können.
Die im Grundgesetz statuierten Freiheitsrechte sahen die Gründungsmitglieder der Humanistischen Union insbesondere durch kirchliche Einflüsse bedroht. Sie forderten daher die strikte Trennung von Kirche und Staat. Auf Grund dieser Forderung wurde und wird die HU teilweise als antichristliche Organisation angesehen. Sie selbst bezeichnet sich hingegen als antiklerikal und antikonfessionalistisch.
In den folgenden Jahren entstanden auf lokaler Ebene Ortsverbände der Humanistischen Union. Am 4. Juli 1962 wurde die Humanistische Studentenunion (HSU) gegründet. Noch heute arbeiten in den meisten Bundesländern Landesverbände zu bürgerrechtlich relevanten landespolitischen Fragen wie z. B. des Strafvollzugs oder Polizeirechts.
Die gesellschaftliche Ausdehnung der Humanistischen Union und die damit verbundene Aufnahme neuer Mitglieder führten schon bald zu einer Erweiterung des Tätigkeitsbereichs. Im Fokus stand zunächst die Liberalisierung des Strafrechts. Hier wandte sich die HU gegen die Strafbarkeit rein unmoralischer oder sittenwidriger Verhaltensweisen, beispielsweise der Verbreitung unzüchtiger Schriften, der Homosexualität (§ 175 des Strafgesetzbuches [StGB]) oder auch der Gotteslästerung. Zudem plädierte die Humanistische Union für eine politische Auseinandersetzung mit Kommunismus und Sozialismus, die an Stelle der rechtlichen Verfolgung ihrer Anhänger treten sollte.
Ihre Ziele versuchte die Humanistische Union zunächst durch Vorträge, Podiumsdiskussionen, Plakataktionen, öffentliche Erklärungen und Publikationen zu verwirklichen. Diese unmittelbare Einwirkung auf die öffentliche Meinung wich jedoch im Laufe der Zeit zunehmend einer Lobbyarbeit, die sich beispielsweise in Stellungnahmen und Gutachten zu Gesetzgebungsvorhaben niederschlug.
Mitte der 1960er Jahre wurden innerhalb der Humanistischen Union Rufe nach mehr innerverbandlicher Demokratie laut. Die bisher intern eher informell agierende Vereinigung sollte zudem transparenter strukturiert und organisiert werden. Diese Bestrebungen waren mit der ursprünglichen Idee des HU-Gründers Szczesny nicht in Einklang zu bringen. 1967 kam es auf einer Mitgliederversammlung zum Konflikt zwischen Szczesny und seinen Kritikern, den Letztere für sich entscheiden konnten. Die Mitgliederversammlung verabschiedete eine neue Satzung, in der klare Strukturen und Verfahren festgelegt wurden. Sie gilt in ihren grundsätzlichen Inhalten bis heute. Szczesny blieb zwar zunächst Bundesvorsitzender, wurde aber 1969 von Walter Fabian abgelöst.
In der Folgezeit wandelte sich die Humanistische Union mehr und mehr von einer linksliberalen antiklerikalen Bewegung zu einer Bürgerrechtsvereinigung. Anfang der 1970er Jahre setzte sich die HU für die Abschaffung des § 218 StGB ein, da sie das dort normierte Abtreibungsverbot als unzulässigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau ansah. In den späten 1970er Jahren bemühte sich die Humanistische Union um eine Versachlichung hinsichtlich des Umgangs mit und des Vorgehens gegen die Terroristen der RAF.
Anfang der 1980er Jahre wandte sich die HU gegen die geplante Volkszählung und konnte sich durch das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts in ihrer Rechtsauffassung bestätigt fühlen. Spätestens seit dieser Zeit gehören Fragen des Datenschutzes und des Post- und Fernmeldegeheimnisses zu den Kernthemen der Humanistischen Union. Die Themen Antidiskriminierungsgesetz und Akteneinsichtsrecht (Informationsfreiheit) versuchte sie bereits viele Jahre vor dem Inkrafttreten der entsprechenden Gesetze zu popularisieren.
In den Jahren der deutschen Vereinigung nach 1989 setzte sich die HU intensiv, aber vergeblich für eine neue gesamtdeutsche Verfassung ein, die eine erweiterte Partizipation der Bürger gewährleisten sollte.
[Bearbeiten] Ziele
Heute sieht die Humanistische Union ihren Tätigkeitsschwerpunkt in der Verteidigung der Bürgerrechte. Sie setzt sich insbesondere ein für mehr demokratische Mitwirkungsrechte, die Trennung von Kirche und Staat, die Begrenzung der Befugnisse von Polizei und Geheimdiensten, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Entkriminalisierung von Drogenbesitz sowie für Datenschutz und Informationsfreiheit. Sie fordert eine Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts von Kranken und Sterbenden sowie humane Bedingungen für Gefangene und Flüchtlinge.
Darüberhinaus kritisiert die Humanistische Union die seit Mitte der neunziger Jahre zu beobachtende Strafverschärfung im Bereich der Sexualstraftaten (§§ 174-184 StGB) sowie die mediale wie öffentliche "moralische Panik" in diesem Zusammenhang:
- "Wir sind Zeugen eines neokonservativen Rechtsrucks, wir erleben den starken, populistischen, aber demokratiewidrigen Staat mit obrigkeitsstaatlichen Allüren. [...] Denn jener hinter den neuen Vorschriften [zur Strafverschärfung bei Sexualstraftaten] stehende Staat ist der Staat der Kontrolle, der Manipulation und des Verdachts. Und das sind die Merkmale des Rechts totalitärer Staaten."[1]
- "Besonders heikel ist es beim sexuellen Kindesmißbrauch, weil er als widernatürlich angesehen wird. [...] Hier werden die seelischen Schäden erst durch die strafrechtliche Verfolgung des Täters gesetzt. In diesen Fällen werden kluge und klug beratene Eltern überlegen, ob sie eine Strafanzeige erstatten, wenn keine Wiederholungsgefahr offen liegt, die erste durchaus berechtigte Empörung ist nicht immer der beste Ratgeber."[2]
- "Die Öffentlichkeit denkt bei dem Stichwort 'Kindesmißbrauch' an Gewalttaten und Mord. In den meisten Fälle (75 bis 80 %) wird, wie das Bundeskriminalamt verlauten ließ, 'keine Gewalt' angewendet, bei 65% handelt es sich um 'exhibitionistische oder ähnliche Kontakte'. [...] Grundsätzlich ist die Überlegung richtig, zwischen schwereren und leichten Fällen zu unterscheiden, die zur Einfügung des § 176 a führte. Warum wurden aber die minder schweren 'Fälle', die einvernehmlich geschehen und bei denen keine Gewalt im Spiele ist, überhaupt im Strafgesetzbuch belassen?
- [...] Auch die Ausweitung der Fristen der Eintragung im Bundeszentralregister und damit in den Führungszeugnissen schon bei geringen 'Straftaten' [...] sind abzulehnen. Sie dienen nicht dem Schutz der 'Opfer' und schon gar nicht der Wiedereingliederung der 'Täter' in die Gesellschaft. Summa Summarum [...]: 'Die immer wiederkehrenden Forderungen nach mehr und effektiverer Prävention durch Verschärfungen des Strafrechts erfüllen eher die Funktion, die massenmedial und politisch geschürten Ängste der Bevölkerung zu besänftigen bzw. schlicht vorzugeben, man tue etwas gegen Sexual- und Gewaltstraftaten. Ihre Verwirklichung würde der Staatsgewalt Zuwachs, den Menschen(rechten) aber Schaden bescheren. Es wäre nicht nur zu befürchten, daß Hilfen für die Täter aus dem Blick gerieten, sondern vor allem die notwendigen Hilfen für die Opfer bzw. deren Angehörige.' "[3]
Dabei habe es entsprechend des über Jahrzehnte kontinuierlichen Abwärtstrends trotz heute gestiegener Anzeigebereitschaft im Jahre 1975 noch allein in der damaligen BRD mehr Sexualstraftaten nach den §§174-184 StGB gegeben als im Jahre 1995 im gesamten Gebiet der neuen Bundesrepublik zusammen, die Neuen Länder eingeschlossen (vrgl. etwa Weber & Narr 1997). Die Humanistische Union fordert aus diesen Gründen auch die Förderung und Betreuung bestehender "Selbsthilfegruppen von sexuellen Minderheiten in wissenschaftlich fundierter Weise" [3], anstatt diese als "anonyme Kinderschänderringe" zu verunglimpfen[4] (vrgl. etwa die Fälle der von der Humanistischen Union unterstützten Selbsthilfegruppen Arbeitsgemeinschaft Pädophilie in Berlin und München, die im Jahre 2003/04 Straftaten bezichtigt wurden, die außerhalb ihrer Zuständigkeit lagen[5][6][7][8]).
Die Humanistische Union ist Mitglied des NGO-Netzwerks Forum Menschenrechte.
[Bearbeiten] Mitglieder
Derzeitige Bundesvorsitzende der Humanistischen Union ist Rosemarie Will, Professorin für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin und Richterin am Landesverfassungsgericht des Landes Brandenburg. Stellvertretender Bundesvorsitzender ist der Rechtsanwalt Fredrik Roggan.
Prominente Vorstandsmitglieder der Humanistischen Union waren oder sind der ehemalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller Alexander Mitscherlich, der ehemalige niedersächsische Landtagsabgeordnete Werner Holtfort und der Hamburger Strafrechtsprofessor Fritz Sack (ebenfalls Mitglied im Kuratorium der Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität AHS). Auch der Rechtsanwalt und ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily war HU-Vorstandsmitglied; er trat jedoch später aus der Humanistischen Union aus.
Zu den bekannteren Angehörigen des Beirats der HU zählen oder zählten die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, die ehemaligen Bundesministerinnen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Herta Däubler-Gmelin und Renate Künast, die Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, der ehemalige Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch, die Bundestagsabgeordnete und Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Claudia Roth, der Bundestagsabgeordnete Volker Beck, der Schriftsteller Walter Jens, die Friedensaktivistin Petra Kelly, der ehemalige Oberlandesgerichtspräsident Rudolf Wassermann, der Datenschutzexperte Hansjürgen Garstka, der ehemalige Bundestagsabgeordneten und ehemalige Europaabgeordnete Harri Bading, der ehemalige Bundestagsabgeordnete und ehemalige stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP Oswald Adolph Kohut, der ehemalige Bundestagsabgeordnete Peter Blachstein, die ehemalige Bundestagsabgeordnete Ingrid Matthäus-Maier, der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar und der ehemalige Hamburger Innensenator Hartmuth Wrocklage, die - nach ihrem Austritt aus der FDP - ehemalige Hamburger Kultursenatorin und ehemalige niedersächsische Ministerin für Wissenschaft und Kultur Helga Schuchardt, der ehemalige Professor an der Universität Göttingen und Universität Bielefeld Hartmut von Hentig, die Professorin für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht an der Universität Hamburg und ehemalige Berliner Senatorin für Bundesangelegenheiten und ehemalige hessische Ministerin für Frauen, Arbeit und Sozialordnung Heide Pfarr, der ehemalige Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hannover Jürgen Seifert, der ehemalige Professor für Volkswirtschaftslehre an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen Karl Georg Zinn, der politische Grafiker Klaus Staeck, die Journalistin und Schriftstellerin Daniela Dahn.
[Bearbeiten] Publikationen
[Bearbeiten] Mitgliederzeitschrift
Die HU-Vereinszeitschrift Mitteilungen (ISSN 0046-824X) hat in erster Linie Interna und laufende Arbeitsvorhaben der Humanistischen Union zum Inhalt. Sie erscheint seit 1962 alle Vierteljahre.
[Bearbeiten] „vorgänge“
Die Humanistische Union ist Mitherausgeberin der vorgänge – Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik (ISSN 0507-4150). Die Zeitschrift existiert seit 1961. Sie erscheint viermal im Jahr.
[Bearbeiten] Grundrechte-Report
Zusammen mit anderen Vereinigungen veröffentlicht die HU seit 1997 jährlich den Grundrechte-Report, der die Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland zum Inhalt hat. Dieser „alternative Verfassungsschutzbericht“ listet Rückschläge und Erfolge der Bürgerrechtspolitik beispielhaft auf und misst sie an den Grundgesetznormen; außerdem bietet er eine Chronologie wichtiger Ereignisse und einen Serviceteil mit Adressen aller nennenswerten Bürger- und Menschenrechtsvereinigungen.
[Bearbeiten] Fritz-Bauer-Preis
Seit 1968 vergibt die Humanistische Union jährlich den Fritz-Bauer-Preis an Persönlichkeiten oder Institutionen, die sich in besonderer Weise um die Demokratisierung, Liberalisierung und Humanisierung der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland verdient gemacht haben. Prominente Preisträger waren der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann, die Journalistin Peggy Parnass, der Rechtsanwalt und Strafverteidiger Heinrich Hannover, der Strafrechtsprofessor Gerald Grünwald, der Politologe und Bürgerrechtler Ossip K. Flechtheim, der Schriftsteller Günter Grass und die brandenburgische SPD-Politikerin Regine Hildebrandt, der Jurist und Gründungsmitglied der HU Erwin Fischer.
[Bearbeiten] Literatur
- Thymian Bussemer, Alexander Camman (Hrsg.): Freiheitsrechte durchsetzen, Grundrechte einfordern, in Freiheit leben. Der Humanistischen Union zum 40. Gründungsjubiläum. 1. Auflage. Verlag Leske + Budrich, Berlin 2001.
[Bearbeiten] Quellenverweise
- ↑ Vortrag: Reform des Sexualstrafrechts - Hintergründe und Versuch einer Gesetzesfolgenabschätzung, Prof. Dr. Hartmut-Michael Weber, Sachverständiger vor dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages und Europakoordinator der Masaryk-Universität Brno (Tschechien), auf dem HU-Kongreß Politik, Recht & Sexualität in Verbindung mit dem Kommitee für Grundrechte und Demokratie in Köln am 16. Mai 1998 (abgedruckt in: Karl Cervik, Was ist Pädophilie? - Annäherung an ein strittiges Thema, Books on Demand GmbH, Norderstedt, S. 118ff. ISBN 3-8334-2730-2)
- ↑ Offizielle Stellungnahme der Humanistischen Union vom 2. Oktober 1996 von Richter Prof. Ulrich Vultejus zur Videovernehmung von Kindern (abgedruckt in: Karl Cervik, Was ist Pädophilie? - Annäherung an ein strittiges Thema, Books on Demand GmbH, Norderstedt, S. 131ff. ISBN 3-8334-2730-2)
- ↑ a b Pressemitteilung der HUMANISTISCHEN UNION zum "Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten" vom 16. 12. 1997
- ↑ Pressemitteilung des Arbeitskreises Sexualstrafrecht der HUMANISTISCHEN UNION vom 21. Oktober 1998
- ↑ Artikel Nicht kriminell auf dem Internetportal Gigi-online.de von Gigi - Zeitschrift für sexuelle Emanzipation, herausgegeben vom Wissenschaftlich-Humanitären Komitee (WHK)
- ↑ http://www.ahs-online.de/muenchnerselbsthilfegruppe.html
- ↑ http://www.ahs-online.de/reportmuenchen.html
- ↑ Artikel Kleine Freunde auf dem Internetportal Gigi-online.de