Akute lymphatische Leukämie
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Akute lymphatische Leukämie | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|
|
Die akute lymphatische Leukämie (syn. akute lymphoblastische Leukämie, kurz ALL) ist eine Form der Leukämie, die von bösartig entarteten Vorläuferzellen der Lymphozyten (einer Unterform der Leukozyten) ausgeht. Verschiedenste Symptome wie allgemeine Schwäche mit Blutarmut, Blutgerinnungsstörungen, Fieber mit schwer verlaufenden Infekten, Knochenschmerzen u.a.m. können auftreten. Die Behandlung erfolgt mittels Chemotherapie. Führte die ALL noch vor 30 Jahren bei der ganz überwiegenden Zahl der Patienten innerhalb von wenigen Wochen zum Tode, so ist sie heute bei 40-50 % der Erwachsenen und bei ca. 80 % aller Kinder heilbar.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Häufigkeit
Die ALL ist eine seltene Erkrankung mit einer Inzidenz bezogen auf alle Altersgruppen von etwa 1,5 Neuerkrankungen/100.000 im Jahr. Es besteht ein Übergewicht von männlichen Erkrankten (1,4 : 1). Für Deutschland schätzt man etwa 500 Neuerkrankungen bei Erwachsenen und ebenfalls ca. 500 Neuerkrankungen bei Kindern pro Jahr (genaue Zahlen existieren wegen des Fehlens eines zentralen Krebsregisters leider nicht).
Die Verteilung über die Altersgruppen zeigt einen Gipfel im Kindesalter (6,5/100.000 bei Kindern unter 4 Jahren) und einen zweiten im höheren Alter (1,5/100.000 bei über 80-jährigen). Bei Erwachsenen macht die ALL weniger als 15% aller akuten Leukämien aus (d. h. mehr als 85% sind akute myeloische Leukämien). Bei Kindern sieht dieses Verhältnis gerade andersherum aus. Die ALL ist damit die häufigste maligne Erkrankung im Kindesalter.
[Bearbeiten] Ursachen und Entstehung
Ursache der Erkrankung sind genetische Veränderungen in einer lymphatischen Zelle, die zur malignen Transformation dieser Zelle führen. Diese genetischen Veränderungen sind (von seltenen Spezialfällen abgesehen) im Laufe des Lebens erworben und nicht vererbt und auch nicht vererbbar, da die Keimbahnzellen (Eizellen, Spermien) nicht betroffen sind. Unklar ist, wie sie zum individuellen Auftreten der Krankheit führen. Es gibt Risikofaktoren für das Entstehen von Leukämien (ionisierende Strahlung, chemische Mutagene etc.), aber bei den allermeisten Patienten kann man trotz sorgfältiger Suche keine spezifische Ursache finden. Auch gibt es bisher keinen Beweis für eine mögliche infektiöse Ursache, z. B. durch Viren. Die einzige Ausnahme bildet die adulte T-Zell-Leukämie in Japan, die durch das Retrovirus HTLV-I verursacht wird, das aber in Europa so gut wie gar nicht vorkommt. Die maligne transformierte Zelle und ihre durch Zellteilung entstandenen Tochterzellen vermehren sich unkontrolliert und ungebremst und verdrängen die normale Blutbildung im Knochenmark. Die ALL ist also eine klonale Erkrankung, d. h. alle ALL-Zellen sind nahezu identische genetische Kopien voneinander. Die malignen Zellen sammeln sich vorwiegend in den lymphatischen Organen (v. a. Lymphknoten, Milz, Thymus), jedoch auch anderen Organen wie z. B. dem Zentralnervensystem (ZNS) an. Es kommt zu einer zunehmenden Störung der Blutbildung (Knochenmarkinsuffizienz) mit Blutarmut (Anämie) und Thrombozytopenie (Fehlen von Thrombozyten = Blutplättchen) und einer damit verbundenen Blutungsneigung, sowie zu einer Immunschwäche. Unbehandelt verläuft die Erkrankung schnell tödlich.
[Bearbeiten] Symptome
Die Symptome bei der ALL ähneln denen der akuten myeloischen Leukämie.
Es treten auf:
- Störungen der Blutbildung:
- insbesondere Blutarmut (Anämie) mit allgemeiner Schwäche, Leistungsknick, Abgeschlagenheit
- Mangel an Blutplättchen (Thrombozyten), u. U. verbunden mit Blutungsneigung, z. B. Spontanblutungen jeder Art
- starke Abwehrschwäche durch relativen Mangel an funktionsfähigen weißen Blutzellen (Leukozyten) mit schwer verlaufenden Infektionen
- gelegentlich Hepatosplenomegalie (Vergrößerung von Leber und Milz)
- gelegentlich Schwellungen der Lymphknoten
- gelegentlich Knochenschmerzen, die manchmal auch Erstsymptom der Erkrankung sein können
- manchmal Meningeosis leucaemica (Befall des ZNS durch Leukämiezellen) mit neurologischen Ausfällen
- Thymusschwellung (sogenannter Mediastinaltumor) bei der T-ALL mit u. U. oberer Einflussstauung
[Bearbeiten] Diagnostik und Klassifikation
Für die Diagnosestellung ist eine Untersuchung des Knochenmarks essentiell, da es durchaus vorkommen kann, dass bei Diagnosestellung noch keine feststellbare Ausschwemmung von Leukämiezellen aus dem Knochenmark in das Blut vorliegt. Man spricht dann von einer aleukämischen Verlaufsform. Wenn Leukämiezellen im Blut nachweisbar sind, aber die Zahl der Leukozyten insgesamt nicht erhöht ist, spricht man von einem subleukämischen Verlauf. Wenn die Gesamtzahl der Leukozyten durch Leukämiezellen erhöht ist, nennt man dies einen leukämischen Verlauf. Eine normale oder sogar erniedrigte Leukozytenzahl im Blut schließt also eine Leukämie nicht aus, entscheidend ist die Knochenmarkdiagnostik.
Die Diagnose einer ALL kann gestellt werden aufgrund:
- den Nachweis eines Anteil lymphatischen Blasten von mindestens 20% im Knochenmark
- die Zuordnung der Blasten zur lymphatischen Reihe durch Immunphänotypisierung (s. u.)
- den Nachweis charakteristischer genetischer Veränderungen (s. u.)
[Bearbeiten] Zytomorphologie
Durch mikroskopische Untersuchung des Knochenmarks oder des Blutausstrichs bei leukämischem Verlauf kann die Diagnose einer akuten Leukämie gestellt werden. Für die weitere Subklassifikation der ALL spielt die Zytomorphologie (die mikroskopische Beurteilung) nur eine untergeordnete Rolle. In der sogenannten FAB-Klassifikation ("French-American-British") wird zwischen drei verschiedenen Morphologien unterschieden (L1, L2, L3). Von Bedeutung ist das nur für den seltenen L3-Subtyp, der in der Regel mit der "reifzelligen B-ALL" assoziiert ist. Die reifzellige B-ALL ist eine Sonderform der ALL und kann als die leukämische Manifestation des Burkitt-Lymphoms betrachtet werden (d. h. ein Burkitt-Lymphom mit >20% Knochenmarkbefall) und wird wie dieses behandelt.
[Bearbeiten] Immunphänotypisierung
Entscheidend ist die Immunphänotypisierung der aus dem Blut oder mittels Knochenmarkpunktion gewonnenen Leukämiezellen, die heute meist mit dem FACS (Fluorescence Activated Cell Sorter) erfolgt. Mittels Immunphänotypisierung wird untersucht, ob und in welchem Ausmaß sich bestimmte Proteine an der Oberfläche oder im Zytoplasma der Zellen befinden. Das Expressionsmuster verschiedener lymphatischer, myeloischer und Vorläuferzell-Antigene ermöglicht die Zuordnung zu B- oder T-Zellreihe und die Festlegung des Differenzierungsstadiums. Die folgende Tabelle zeigt die Einteilung der akuten lymphatischen Leukämie aufgrund des Oberflächen-Antigenmusters nach der sogenannten EGIL-Klassifikation (EGIL = European Group for the Immunological Characterization of Leukemias). Etwa 75% der ALLs im Erwachsenenalter lassen sich der B-lymphozytären Reihe zuordnen und etwa 25% der T-lymphozytären Reihe. Bei ALL im Kindes- und Jugendalter beträgt das Verhältnis etwa 85% : 15%.
B-Linien-ALL | T-Linien-ALL | |||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
pro-B | common | prä-B | B | pro-T | prä-T | kortikale (thymische) | reife | |
B-Zell-Antigene | ||||||||
CD19 | + | + | + | + | - | - | - | - |
cyCD22 | + | + | + | + | - | - | - | - |
CD79alpha | + | + | + | + | - | - | - | - |
cyIgM | - | - | + | - | - | - | - | - |
mIg | - | - | - | + | - | - | - | - |
T-Zell-Antigene | ||||||||
cyCD3 | - | - | - | - | + | + | +/- | - |
CD7 | - | - | - | - | + | + | + | + |
CD2 | - | - | - | - | - | + | + | + |
CD1a | - | - | - | - | - | - | + | - |
mCD3 | - | - | - | - | - | - | +/- | + |
Vorläuferzell-Antigene | ||||||||
TdT | + | + | + | - | + | + | + | +/- |
HLA-DR | + | + | + | + | +/- | - | - | - |
CD10 | - | + | +/- | +/- | +/- | +/- | +/- | - |
[Bearbeiten] Zytogenetik und Molekulargenetik
Die Zytogenetik und Molekulargenetik der akuten Leukämien ist Gegenstand intensiver Forschungen. In den letzten zwei Jahrzehnten sind sehr viele Arbeiten erschienen, die sich mit verschiedenen Aspekten der Genetik dieser Erkrankungen beschäftigen. Die Genetik bildet gewissermaßen die Grundlage für das vertiefte Verständnis der Erkrankung.
Grundsätzlich ist zu sagen, dass sich die ALL des Kindes- oder Säuglingsalters, was die genetischen Grundlagen angeht, zum Teil erheblich von der ALL des Erwachsenenalters unterscheidet. Deswegen sollen die drei Altersklassen hier getrennt betrachtet werden:
[Bearbeiten] ALL im Kleinkind-/Säuglingsalter (Alter unter einem Jahr)
Kennzeichnend für die ALL des Kleinkindes (engl.: infant leukemia) sind Veränderungen des MLL-Gens auf dem langen Arm von Chromosom 11, Bande 23 ("11q23-Aberrationen"). Diese Veränderungen sind fast durchgehend mit einer ungünstigen Prognose assoziiert. Das MLL-Gen ist dabei in der Regel durch Chromosomentranslokationen mit anderen Genen fusioniert. Bis heute sind über 50 Fusionspartner bekannt. Die häufigste Aberration ist jedoch eine reziproke Translokation mit dem AF4-Gen auf Chromosom 4, Bande 21. Dabei entsteht ein sogenanntes Fusionsprotein (auch chimäres Protein), so dass die eigentlichen Funktionen der beteiligten Gene entweder verloren gehen oder so stark verändert werden, dass sie krankheitsauslösend oder -fördernd wirken.
[Bearbeiten] ALL im Kindesalter (1 bis 16 Jahre)
Bei der ALL des Kindesalters sind eine Vielzahl von genetischen Veränderungen gefunden worden [1]. Vereinfacht unterscheidet man genetisch zur Zeit die folgenden Gruppen:
-
- Patienten mit hyperdiploidem Chromosomensatz (d. h. Vermehrung von Chromosomen) - prognostisch günstig
- Patienten mit hypodiploidem Chromosomensatz (d. h. Verminderung von Chromosomen) - prognostisch ungünstig
- Patienten mit der Chromosomentranslokation t(12;21), die zu dem Fusionsgen TEL-AML1 führt - prognostisch günstig [2]
- Patienten mit der Chromosomentranslokation t(9;22), die zu dem Fusionsgen BCR-ABL führt - prognostisch ungünstig
- Patienten mit der Chromosomentranslokation t(1;19), die zu dem Fusionsgen E2A-PBX1 führt - prognostisch günstig
- Patienten mit MLL-Aberrationen (s. o.) - prognostisch ungünstig
- Patienten mit T-Linien-ALL - prognostisch ungünstig
Die häufigste Veränderung ist dabei die t(12;21), die in etwa 25% der Fälle zu finden ist.
[Bearbeiten] ALL im Erwachsenenalter (ab 16 Jahre)
Bei Erwachsenen findet man im Prinzip dieselben genetischen Veränderungen wie bei Kindern, nur mit zum Teil erheblich unterschiedlicher Häufigkeit. Die häufigste Veränderung ist dabei die t(9;22), die in ca. 25% der Fälle zu finden ist. Die t(12;21) ist dagegen selten (ca. 1%). Die prognotische Wertigkeit der o.g. Veränderungen ist bei Erwachsenen z.T. noch nicht eindeutig geklärt (t(12;21), t(1;19)). Die T-ALL hat eine bessere Prognose als bei Kindern.
[Bearbeiten] Behandlungsauswahl
[Bearbeiten] Prognostische Faktoren
Die ALL ist kein einheitliches Krankheitbild sondern kann bei verschiedenenen Patienten einen sehr unterschiedlichen Verlauf nehmen. Manche Patienten zeigen z. B. ein gutes Therapieansprechen während andere nur verzögert auf die Therapie ansprechen oder schnell rezidivieren. In den letzten Jahrzehnten konnten verschiedene Risikofaktoren identifiziert werden. Als "Risikofaktoren" bezeichnet man in diesem Kontext Faktoren, die dazu führen, dass der betroffene Patient ein erhöhtes Risiko aufweist, schlecht auf die Behandlung anzusprechen oder ein Rezidiv zu erleiden. Die ALL wird weltweit nicht einheitlich behandelt. Es gibt in verschiedenen Ländern verschiedene große sogenannte Studiengruppen, die ihre Patienten nach bestimmten Therapieschemata behandeln.
Beispiele für solche Studiengruppen sind:
[Bearbeiten] Studiengruppen für erwachsene Patienten
- GMALL (German Multicenter ALL Study Group) [2] - in Deutschland und einigen weiteren Ländern
- GIMEMA (Gruppo Italiano Malattie Ematologiche dell' Adulto) [3] - in Italien
- MRC (Medical Research Counsil) [4] - im Vereinigten Königreich
- PETHEMA (Programa para el Estudio de la Terapéutica en Hemopatía Maligna) [5] - in Spanien
- GRAAL (Group for Research on Adult Acute Lymphoblastic Leukemia) - in Frankreich, Belgien und der Schweiz
- NILG (Northern Italy Leukaemia Group) in Norditalien
- PALG (Polish Adult Leukaemia Group) in Polen
- SWOG (Southwest Oncology Group) [6] in den USA
[Bearbeiten] Studiengruppen für Kinder und Jugendliche
- ALL-BFM Berlin-Frankfurt-Münster kooperative multizentrische ALL Studie - für primäre Erkrankung - Deutschland, Österreich, Schweiz, z. T. auch andere europäische Länder
- COALL Cooperative ALL-Studie - für primäre Erkrankung - Deutschland
- ALL-REZ BFM Berlin-Frankfurt-Münster kooperative multizentrische Studie ALL-Rezidiv - für Rückfall - Deutschland, Österreich, Schweiz
- ALL-SZT BFM Berlin-Frankfurt-Münster kooperative multizentrische Studie ALL-Stammzelltransplantation - Deutschland, Österreich, Schweiz
- I-BFM (International BFM-Group) - Behandlungsprotokoll nach Grundlage von ALL-BFM - Europa
- COG (Children's Oncology Group) - diverse Protokolle - USA
- UKALL (United Kingdom ALL Study Group) - Behandlungsprotokoll der UK Children's Cancer Study Group - Großbritannien
- SFOP (Societé française d'oncologie pédiatrique) - Frankreich
- NOPHO (Nordic Society of Paediatric Haematology and Oncology) - Skandinavien
[Bearbeiten] Etablierte Risikofaktoren
Praktisch alle Studiengruppen haben die folgenden Risikofaktoren herausarbeiten können - obwohl die jeweilige Therapie unterschiedlich ist:
- 1. genetisch Nachweis des BCR-ABL-Fusionsgens [3]
- 2. hohe periphere Leukozytenzahl bei Diagnosestellung als Ausdruck einer hohen "Tumorlast" (tumor burden)
- 3. verzögertes Ansprechen auf die Therapie (insbesondere nach Induktionsphase der Therapie)
- 4. genetisch Nachweis eines MLL-Fusionsgens
- 5. das Patientenalter: junge Patienten haben in der Regel deutlich bessere Heilungschancen als ältere (Ausnahme: Säuglinge) [4].
- 6. Befall des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark) durch die ALL [5] [6]
- 7. bestimmte Immunphänotypen (T-Linien ALL) im Kindes- und Jugendalter (1-18 Jahre)[7] oder pro-B-ALL (siehe oben)
Andere Risikofaktoren sind umstritten und nicht allgemein akzeptiert. Es muss auch betont werden, dass die oben genannten Faktoren statistische Risikofaktoren sind, d. h. im Einzelfall kann der klinische Verlauf auch anders aussehen, als erwartet. Die Identifizierung von Riskofaktoren ist deswegen bedeutsam, weil es sich bei den betroffenen Patienten um Hochrisko-Patienten handelt, die sehr gefährdet sind, ein Rezidiv zu erleiden. Deswegen sehen die bisherigen Therapiekonzepte für diese Patienten primär eine intensivere Behandlung vor. In der Regel wird die allogene Knochenmark- oder Stammzelltransplantation angestrebt.
Einen besonderen Risikofaktor, der hier gesondert abgehandelt werden soll, stellt die sogenannte Minimale Resterkrankung (MRD = minimal residual disease) dar. Als MRD bezeichnet man den Anteil von Leukämiezellen nach einer Therapie. Man spricht dann z. B. von einer MRD von 0.001% oder 10-5, was dann eine Leukämiezelle unter 100 000 gesunden Blutzellen bezeichnet. Man weiß mittlerweile, dass die MRD den wichtigsten Risikofaktor bei der Leukämiebehandlung überhaupt darstellt. Im Rahmen moderner Leukämie-Therapiekonzepte wird angestrebt, die MRD deswegen auch regelmäßig zu bestimmen um den Grad des Therapieansprechens zu ermitteln. Voraussetzung für solche MRD-Messungen ist das Vorhandensein einer klonalen Veränderung im Leukämie-Zellklon, die sich mittels Polymerase-Kettenreaktion (PCR) nachweisen lässt. Gelingt es durch die Therapie nicht, die MRD unter ein gewisses Niveau zu bringen (mindestens 10-4), ist ein Rezidiv der Erkrankung praktisch vorprogrammiert [8] [9]. Künftige Therapiekonzepte werden wahrscheinlich fast ausschließlich MRD-basiert "stratifiziert" sein, d. h. bei den behandelten Patienten wird regelmäßig die MRD gemessen und je nach der "Kinetik", d. h. dem MRD-Verlauf werden diese Patienten unterschiedlichen weiteren Behandlungsformen zugeführt werden.
[Bearbeiten] Behandlung
Zur Behandlung der ALL können verschiedene Chemotherapie-Verfahren eingesetzt werden.
Vor Beginn der Behandlung muss eine ausführliche Diagnostik erfolgen, um die ALL genetisch und immunzytolologisch zu charakterisieren. Es erfolgt eine Knochenmarkpunktion und eine Untersuchung des Nervenwassers (Liquorpunktion bzw. Liquorzytologie) zur Erfassung eines möglichen Befalls des Zentralnervensystems (Meningeosis leucaemica). Das gewonnene Knochenmark wird zytomorphologisch (d. h. unter dem Mikroskop), immunologisch (d. h. mittels FACS-Analyse, s. o.), zytogenetisch (d. h. Analyse der Chromosomen) und molekulargenetisch (s. o.) untersucht. Bei der Untersuchung des Nervenwassers (Liquor) wird zumeist nur eine zytologische Untersuchung durchgeführt: bei besonderer Fragestellung und Notwendigkeit kann aber auch eine Immunophänotypisierung mit oder ohne Bildgebung des Zentralnervensystems erfolgen (beispielsweise durch Magnetresonanztomographie).
Unmittelbar anschließend an die Diagnostik wird die Behandlung begonnen. Diese erfolgt mittels Chemotherapie, d. h. durch Gabe von Zytostatika. Es werden Kombinationen von verschiedenen Zytostatika gegeben, da dadurch die antileukämische Wirkung vielfach verstärkt ist. Die Behandlung dauert insgesamt mindestens 12 bis 18 Monate.
Etwas vereinfacht kann man sagen, dass die Behandlung nach folgendem Schema abläuft:
Induktionstherapie (u. U. als "Doppel-Induktion") -> Konsolidierungstherapie -> Re-Induktionstherapie -> Erhaltungstherapie
[Bearbeiten] Induktionsphase (1-2 Monate)
Am Anfang steht meist eine sogenannte "Induktionstherapie", die sehr intensiv und nebenwirkungsreich ist. Die wichtigsten Zytostatika sind in dieser Phase
- Anthracycline, z. B. Daunorubicin oder Doxorubicin
- Antimetaboliten, z. B. Cytarabin
- Kortikosteroide, z. B. Dexamethason und Prednison
- Vinca-Alkaloide, z. B. Vincristin
- Alkylantien, z. B. Cyclophosphamid
- L-Asparaginase.
Diese werden in Zyklen beziehungsweise Blöcken verabreicht. Dies bedeutet, dass an zuvor festgelegten Tagen des Behandlungsablaufes definierte Zytostatika in vorbestimmten Dosierungen und Kombinationen dem Patienten verabreicht werden. Die Induktionsphase dauert 4 bis 6 Wochen (bei unkompliziertem Verlauf). Sie hat das Ziel, die ALL so zurückzudrängen, dass sie am Ende der Induktionsphase (ca. 1 Monat nach Behandlungsbeginn) in der Knochenmarkpunktion nicht mehr nachweisbar ist. Die Behandlung ist deswegen so intensiv, weil man den Blasten keine Zeit geben möchte Resistenzen gegen Zytostatika zu entwickeln und deswegen eine möglichst rasche Reduktion der Tumorlast erzielen will.
Gelegentlich wird nach der ersten Induktionstherapie noch eine zweite Induktionstherapie angeschlossen ("Doppelinduktion"), die etwas andere Medikamentenkombinationen beinhaltet und auch etwa einen Monat dauert.
[Bearbeiten] Konsolidierung (mehrere Monate)
Obwohl die ALL im Idealfall einen Monat nach Therapiebeginn nicht mehr nachweisbar sein kann, wird die Behandlung fortgesetzt. Eine Beendung der Behandlung zu diesem Zeitpunkt würde ansonsten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Rückfall führen: die ALL ist zwar mit den zur Verfügung stehenden diagnostischen Methoden nicht mehr nachweisbar, aber noch nicht beseitigt. An die Induktionsphase schließt sich die Konsolidierungsphase an. Auch in dieser Phase werden Zytostatika in festgelegten Dosen und Zeitabständen verabreicht. Die wichtigsten Zytostatika in der Konsolidierungsphase sind:
- Methotrexat
- Cyclophosphamid
- Cytarabin
- Etoposid oder Teniposid
- L-Asparaginase
Insbesondere die Zytostatika Methotrexat und Cytarabin werden dabei in mittelhohen bis hohen Dosierungen eingesetzt. Zusätzlich erfolgt die zwischenzeitliche Gabe von Tioguanin und 6-Mercaptopurin.
[Bearbeiten] Reinduktion
An die Konsolidierungsphase schließt sich die Re-Induktionsphase an. In dieser wird analog zur Induktionsphase die Behandlung erneut intensiviert. Die dabei eingesetzten Zytostatika entsprechen denen der Induktionsphase.
Induktionsphase, Konsolidierungsphase und Re-Induktionsphase werden auch als Intensivphase der Behandlung bezeichnet. Die Gesamtdauer der Behandlung ist abhängig von den Risikofaktoren und dem Behandlungsverlauf der betroffenen Patienten. Die Dauer schwankt zwischen 6 und 12 Monaten. Ein stationärer Krankenhausaufenthalt ist in der Intensivphase zumeist bei der Verabreichung der Zytostatika und bei Auftreten von Komplikationen wie beispielsweise Infektionen in Knochenmarkaplasie ("Zelltief") erforderlich. Zwischen den einzelnen Zytostatika-Zyklen verweilt der Patient mit problemlosem Verlauf zu Hause; lediglich ambulante Kontrollen des Blutbildes sind erforderlich und sinnvoll.
[Bearbeiten] Erhaltungstherapie
In der sich erneut unmittelbar an die Intensivphase anschließenden Erhaltungsphase erhalten die Patienten eine Chemotherapie mit Methotrexat und 6-Mercaptopurin [10]. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Behandlungsphasen wird die Chemotherapie in dieser Phase teilweise oder auch vollständig als orale Chemotherapie (in Form von Tabletten) durchgeführt: 6-Mercaptopurin wird einmal täglich, Methotrexat einmal wöchentlich eingenommen. Ein Krankenhausaufenthalt ist im Gegensatz zur Intensivphase nicht erforderlich. Die Dauer der Erhaltungsphase ist in Abhängigkeit vom verwendeten Therapieprotokoll unterschiedlich und beläuft sich auf 6-18 Monate. Im Kindes- und Jugendalter wird die Erhaltungstherapie mit 6-Mercaptopurin und Methotrexat typischerweise bis zum Zeitpunkt 2 Jahre nach Diagnosestellung bzw. Behandlungsbeginn durchgeführt.
[Bearbeiten] ZNS-Prophylaxe, ZNS-Bestrahlung
Alle Patienten erhalten aufgrund der besonderen Risikosituation bei möglichem Befall des Zentralnervensystems eine sogenannten ZNS-Prophylaxe. Diese wird während der Intensivphase (teilweise auch in der Erhaltungsphase) in 3 Formen durchgeführt. Eine Form ist die in festen Zeitabständen (zeitgleich mit den Zytostatikablöcken) durchgeführte Gabe von Methotrexat in das Nervenwasser (intrathekal) mittels Lumbalpunktion. Die zweite Form ist ergänzend zur ersten die schnell aufeinander abfolgende Gabe von Methotrexat intrathekal (beispielsweise 3 bis 4 Gaben binnen 3 Wochen). Dieser auch ZNS-gerichtete Phase genannte Behandlungsabschnitt schließt sich entweder der Reinduktionsphase an oder wird zwischen der Konsolidierungs- und Reinduktionsphase durchgeführt. Die dritte Form ist die Bestrahlung des Zentralnervensystems. Diese Form war insbesondere zu Beginn der ALL-Behandlung Standard. Im Kindes- und Jugendalter ist aufgrund der beobachteten Spätschäden diese Form für die meisten Patienten zusehends durch die intrathekale Gabe von Methotrexat ersetzt worden [11]. Bei einem gesicherten Befall des Zentralnervensystems zu Anfang der Behandlung oder bei Erfüllung bestimmter Risikofaktoren wie beispielsweise eine anfängliche Leukozytenzahl von mehr als 100.000 pro Mikroliter im peripheren Blut wird eine Bestrahlung des Zentralnervensystems immer durchgeführt.[12] [13]
[Bearbeiten] Mediastinalbestrahlung
Wenn eine starkte Thymusschwellung durch Leukämiezellen als sogenannter Mediastinaltumor vorliegt, wird diese bei Erwachsenen lokal bestrahlt (bei Kindern & Jugendlichen nur im absoluten Ausnahmefall).
[Bearbeiten] Kontrolle des Therapieerfolges
In regelmäßigen Abständen wird eine erneute Knochenmarkpunktion durchgeführt um den Erfolg der Therapie zu überprüfen. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei - wie bereits erwähnt - die Knochenmarkpunktion nach Abschluss der Induktionsphase (nach 4 bis 6 Wochen oder Tag 33 nach Behandlungsbeginn). Auch regelmäßige Überprüfungen des Nervenwassers (Liquor) auf das Vorhandensein von ALL-Zellen sind unabdingbar.
Die Behandlung kann nicht beliebig intensiv und hochdosiert sein, da die Zytostatika erhebliche Nebenwirkungen haben, die dosislimitierend sind. Die wichtigste Nebenwirkung ist die Knochenmarkdepression, die Schädigung auch der verbliebenen, beim Leukämiekranken ohnehin schon stark geschwächten gesunden Blutbildung. Als Folge der chemotherapeutischen Behandlung kommt es zu einer länger dauernden "Aplasie", d. h. einem fast vollständigen Ausfall der normalen Blutbildung. In dieser Phase, die bis zu einem Monat und länger dauern kann, müssen fehlende Blutbestandteile durch Transfusionen ersetzt werden und der Patient ist aufgrund der fehlenden Immunabwehr extrem infektgefährdet. Nicht wenige Patienten versterben aufgrund schwerer in Aplasie erworbener Infektionen während der Behandlung. In der Regel wird durch die Induktionstherapie, die sich meist über etwa 2-3 Monate hinzieht (die Aplasie-Zeiten mitgerechnet) die "Leukämie-Tumorlast" um mindestens einen Faktor 1000 (bis 10000 oder mehr) reduziert. In der nach Ende der Induktionsphase in der Regel nochmal durchgeführten Knochenmarkpunktion sollte keine Restleukämie mehr sichtbar sein (zum Begriff der Minimalen Resterkrankung siehe oben).
Insgesamt ist die Behandlung sehr nebenwirkungsreich und verlangt dem Patienten sehr viel ab und ist trotz aller ärztlichen Maßnahmen mit erheblichen Gefahren, insbesondere durch Infektionen aufgrund der geschwächten Immunabwehr verbunden. Eine gewisse Hoffnung für die Zukunft bieten "targeted drugs", d. h. Medikamente, die wesentlich spezifischer auf Leukämiezellen wirken als herkömmliche Zytostatika, und damit ein weniger schwerwiegendes Nebenwirkungsprofil haben. Das Paradebeispiel für eine solche Substanz ist der Wirkstoff Imatinib (Glivec®), der bei BCR-ABL-positiver ALL eingesetzt wird. Aber auch monoklonale Antikörper wie Rituximab oder Alemtuzumab werden die Therapie in Zukunft wesentlich verändern.
[Bearbeiten] Behandlungsergebnisse
Bevor wirksame Zytostatika zur Verfügung standen, bedeutete die Diagnose "akute lymphatische Leukämie" praktisch das Todesurteil für die betroffenen Patienten. Je nach Stadium der Erkrankung verstarben die Betroffenen innerhalb von Tagen bis Wochen nach Diagnosestellung. Haupttodesursachen waren schwere Infektionen aufgrund der schweren Immunschwäche, Spontanblutungen aufgrund der Thrombozytopenie, oder andere Komplikationen (z. B. bei Befall des ZNS). Besonders tragisch und schwerwiegend war der Umstand, das häufig auch kleine Kinder von der Erkrankung betroffen waren (die ALL ist die häufigste bösartige Erkrankung des Kindesalters). Noch Ende der 70er Jahre, als schon einige wirksame Zytostatika zur Verfügung standen, lag das mittlere 5-Jahres-Überleben bei erwachsenen ALL-Patienten in Deutschland bei unter 15%. Bei Kindern waren die Ergebnisse besser. Seit mehreren Jahrzehnten sind intensive Anstrengungen gemacht worden, die Therapieergebnisse für ALL-Patienten zu verbessern. Dies geschah durch umfangreiche nacheinander abfolgende Therapiestudien, in denen die Patienten behandelt wurden. Die Ergebnisse und Erfahrungen aus einer Therapiestudie dienten dann dazu, eine neue darauf folgende verbesserte Therapiestudie zu planen. Insgesamt liegt das Gesamtüberleben bei ALL-Patienten zur Zeit bei ca. 80% bei Kindern und ca. 40-45% bei Erwachsenen. Diese Zahlen variieren, da sie vom jeweiligen Subtyp und der Therapie abhängen. Weitere Verbesserungen sind in der Zukunft zu erwarten. Es muss aber betont werden, dass diese Zahlen Mittelwerte darstellen. Im Einzelfall kann die Prognose deutlich davon abweichen. So kann z. B. ein 20-jähriger Patient ohne Risikofaktoren (s.o.) deutlich bessere Heilungschancen erwarten, als z. B. ein 65-jähriger Patient mit Risikofaktoren.
[Bearbeiten] Geschichtliches
Der Begriff "Leukämie" stammt von Rudolf Virchow 1845, der damals das Krankheitsbild einer chronischen myeloischen Leukämie beschrieb. Die Entwicklung von Färbeverfahren für Blutausstriche im Jahre 1891 durch Paul Ehrlich führte zu neuen Erkenntnissen über die Morphologie der akuten Leukämien und ermöglichte in der Folge die Abgrenzung der lymphatischen von der myeloischen Leukämie (Naegeli 1900).
[Bearbeiten] Literatur
Pui CH, Relling MV, Downing JR. Acute lymphoblastic leukemia. N Engl J Med 2004; 350(15):1535-1548. PMID 15071128
- ↑ Forestier E et al. Cytogenetic findings in a population-based series of 787 childhood acute lymphoblastic leukemias from the Nordic countries. The NOPHO Leukemia Cytogenetic Study Group. Eur J Haematol 2000; 64(3):194-200. PMID 10997816
- ↑ Loh ML et al. Prospective analysis of TEL/AML1-positive patients treated on Dana-Farber Cancer Institute Consortium Protocol 95-01. Blood 2006; 107(11):4508-4513. PMID 16493009
- ↑ Ribera JM et al. Prognostic value of karyotypic analysis in children and adults with high-risk acute lymphoblastic leukemia included in the PETHEMA ALL-93 trial. Haematologica 2002; 87(2):154-166. PMID 11836166
- ↑ Moricke A et al. Prognostic impact of age in children and adolescents with acute lymphoblastic leukemia: data from the trials ALL-BFM 86, 90, and 95. Klin Padiatr 2005; 217(6):310-320. PMID 16307416
- ↑ te Loo DM et al. Prognostic significance of blasts in the cerebrospinal fluid without pleiocytosis or a traumatic lumbar puncture in children with acute lymphoblastic leukemia: experience of the Dutch Childhood Oncology Group. J Clin Oncol 2006; 24(15):2332-2336. PMID 16710032
- ↑ Clarke M et al. CNS-directed therapy for childhood acute lymphoblastic leukemia: Childhood ALL Collaborative Group overview of 43 randomized trials. J Clin Oncol 2003; 21(9):1798-1809. PMID 12721257
- ↑ Goldberg JM et al. Childhood T-cell acute lymphoblastic leukemia: the Dana-Farber Cancer Institute acute lymphoblastic leukemia consortium experience. J Clin Oncol. 2003 Oct 1;21(19):3616-22. PMID 14512392
- ↑ Marshall GM et al. Importance of minimal residual disease testing during the second year of therapy for children with acute lymphoblastic leukemia. J Clin Oncol 2003; 21(4):704-709. PMID 12586809
- ↑ Nyvold C et al. Precise quantification of minimal residual disease at day 29 allows identification of children with acute lymphoblastic leukemia and an excellent outcome. Blood 2002; 99(4):1253-1258. PMID 11830473
- ↑ Harms DO et al. Thioguanine offers no advantage over mercaptopurine in maintenance treatment of childhood ALL: results of the randomized trial COALL-92. Blood 2003; 102(8):2736-2740. PMID 12843002
- ↑ Langer T et al. CNS late-effects after ALL therapy in childhood. Part III: neuropsychological performance in long-term survivors of childhood ALL: impairments of concentration, attention, and memory. Med Pediatr Oncol 2002; 38(5):320-328. PMID 11979456
- ↑ Laver JH et al. Effects of cranial radiation in children with high risk T cell acute lymphoblastic leukemia: a Pediatric Oncology Group report. PMID 10720128
- ↑ Conter V et al. Role of cranial radiotherapy for childhood T-cell acute lymphoblastic leukemia with high WBC count and good response to prednisone. Associazione Italiana Ematologia Oncologia Pediatrica and the Berlin-Frankfurt-Munster groups. Leukemia. 2000 Mar;14(3):369-373. J Clin Oncol. 1997 Aug;15(8):2786-2791. PMID 9256120
[Bearbeiten] Weblinks
- Kompetenznetz "Akute und chronische Leukämien"
- Kompetenznetz "Pädiatrische Onkologie und Hämatologie"
- European LeukemiaNet
Bitte beachten Sie den Hinweis zu Gesundheitsthemen! |